Lasst euch vom Geist leiten

Rundschreiben an die Brüder des Ordens

LASST EUCH VOM GEIST LEITEN (Gal 5,16)

Fr. Pascual Piles Ferrando

Generalprior

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

LASST EUCH VOM GEIST LEITEN (Gal 5,16)

 

Rundschreiben an die Brüder des Ordens

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Rom, 24. Oktober 1996

Hospitalorden des heiligen Johannes von Gott

Generalkurie

LASST EUCH VOM GEIST LEITEN (Gal 5,16)

 

 

1.            Einleitung

 

1.1.      Wieso dieses Schreiben

 

            Liebe Mitbrüder,

 

            in den zwei Jahren, die seit dem letzten Generalkapitel vergangen sind, habe ich mich wiederholt an den Orden gewandt: in Briefen, Reden, Gesprächen, Dokumenten usw. Dabei war es mein Bestreben, stets die Wirklichkeit miteinzubeziehen und zu würdigen, in der Ihr lebt und arbeitet. Zu diesem Zweck habe ich 34 Länder und 148 Häuser des Ordens, bald als flüchtiger, bald als längerer Gast, alleine oder in Begleitung meiner Räte besucht.

 

            Da ich mich als ein Werkzeug des Herrn betrachte, habe ich versucht, durch meine Gegenwart den heiligen Johannes von Gott sichtbar zu machen. Dazu boten sich mir zahlreiche Gelegenheiten: die Provinzkapitel, die kanonischen Visitationen, Begegnungen der Reflexion, Jubiläen oder andere festliche Ereignisse in den Häusern und persönliche Feiern der Brüder.

 

            Der 500. Geburtstag unseres heiligen Ordensstifters bot mir Gelegenheit, sowohl auf internationaler Ebene als auch auf Provinzebene an einer ganzen Reihe von Feiern und anderen Initiativen teilzunehmen. Diese Feiern und Initiativen waren für alle Beteiligten eine große Bereicherung. Wir wollten, daß dieses Jubiläumsjahr für Brüder und Mitarbeiter ein Jahr spirituellen Wachstums sein sollte. Es ist schwer zu sagen, ob wir dieses Ziel zur Gänze erreicht haben. Die Eindrücke, die ich gesammelt habe, erlauben es mir jedoch zu sagen, daß sich bei vielen Brüdern, Mitarbeitern und Betreuten ein solches spirituelles Wachstum vollzogen hat.

 

            Außerdem hatten wir in diesem Jahr die Freude, die Heiligsprechung des Seligen Johannes Grande zu erleben. Dieses Ereignis hat uns die Gestalt und die Aktualität dieses hervorragenden Mitbruders verstärkt ins Bewußtsein gehoben und den Wert seines Lebenszeugnisses für unser Tun in der heutigen Gesellschaft bestätigt, die immer wieder von neuem zu mehr Solidarität für die Not des Mitmenschen hingeführt werden muß.

 

1.2.      Für meine Mitbrüder

 

            Mit dem vorliegenden Schreiben wende ich mich an Euch, meine Mitbrüder. Mein Anliegen ist, Euch von neuem für die Ideale zu begeistern, auf die wir unser Leben verpflichtet haben. Wir sind in verschiedenen Teilen der Welt dazu berufen worden, gemeinsam die Berufung als Barmherzige Brüder zur Entfaltung zu bringen.

 

            Ich möchte Euch verschiedene Dinge, die mir in den letzten zwei Jahren durch den Kopf gegangen sind, mitteilen, weil ich überzeugt bin, daß ein gemeinsamer Austausch darüber uns helfen kann, besser und fruchtbarer zu leben. Es liegt mir fern, die Kranken und Hilfsbedürftigen, die Mitarbeiter und Freunde des Ordens von dieser Betrachtung auszuschließen. Sie werden darin denn auch immer wieder vorkommen. Trotzdem ist es mein Wunsch, in dem vorliegenden Schreiben mich in erster Linie an Euch zu wenden, an Euch zu denken und mit Euch die Freude unserer gemeinsamen Berufung zu teilen.

 

 

 

1.3.      Der Grundton dieses Schreibens

 

            Der Grundton dieses Schreibens will ein positiver sein. Nicht daß ich mich über die Grenzen unseres Seins und Tuns hinwegtäuschen möchte. Doch das, wozu wir berufen sind, und das, was wir leisten, hat für mich einen unschätzbaren Wert und soll in diesem Schreiben gebührend gewürdigt werden.

 

            Der Grundton meines Schreibens wird deswegen dem des postsynodalen apostolischen Schreibens “Vita Consecrata” von Papst Johannes Paul II. sehr ähnlich sein. Der Heilige Vater sieht darin sehr wohl die Probleme, vor denen gegenwärtig das geweihte Leben steht, spricht davon aber in einem durch und durch positiven und zuversichtlichen Ton. Wiederholt weist er auf die Schönheit des Ordenslebens hin. Von uns wird sicher - zu Recht - vieles verlangt, doch das darf uns nie vergessen machen, daß die wahre Triebkraft der Heilsgeschichte, und mithin auch der Hospitalität, Gott ist.

 

            Bei meinen Begegnungen mit Euch bin ich mit vielfältigen Problemen in Berührung gekommen. Daneben konnte ich jedoch auch eine ungebrochene Lebenskraft feststellen. Johannes Paul II. hat das Ordensleben als die Lebensform dargestellt, die Jesus und die Jungfrau Maria auf Erden gewählt haben. Im folgenden möchte ich Euch eine Reflexion über das Ordensleben vorlegen, die Euch als Lektüre und Meditation dienen soll. Mein Wunsch ist, daß sie Euch hilft, Euer Sein als Barmherzige Brüder zu überdenken und es auf seine Übereinstimmung mit den Aussagen des Lehramtes der Kirche zu hinterfragen, auf das ich immer wieder Bezug nehmen werde.

 

            Wir haben die Lebensform des heiligen Johannes von Gott gewählt, die uns durch zahlreiche eminente Mitbrüder überliefert und weitergegeben worden ist: durch die ersten Lebensgefährten des Heiligen, Pedro Soriano, Johannes Grande, Gabriel Graf von Ferrara, Francisco Camacho, Paul de Magallon, Benedikt Menni, Richard Pampuri, Eustachius Kugler u.v.a. Wir sollen so handeln wie sie. Wenn sie imstande waren, die Berufung als Barmherzige Brüder heiligmäßig zu leben, sehe ich nicht ein, wieso wir nicht ebenfalls dazu in der Lage sein sollten.

 

1.4.      Setzen wir unsere Ideale in die Praxis um

 

            Daher bat ich, anläßlich der Schlußfeier des 500. Geburtstages unseres heiligen Ordensstifters, Gott  für Euch und für mich selbst:”Herr, berühre auch uns, so wie Du den heiligen Johannes von Gott berührt hast. Wirke auf uns, daß auch wir, wie er, die Fähigkeit erlangen, uns Dir und unserem Nächsten, vor allem, wenn er in Not ist, hinzugeben. Mache uns hellhörig für seine Not, gib uns die Fähigkeit, für ihn da zu sein und für alle offen zu sein, die unsere Hilfe brauchen.”

 

            Herr, wir wissen um die Größe des Geschenkes unseres Lebens und freuen uns aufrichtig daran. Es ist nicht notwendig, daß man uns das eigens sagt und daran ermahnt. Deswegen bitten wir Dich: Schenk uns die Fähigkeit, den Wert dieses Geschenkes ständig präsent zu haben und in der Praxis zum Ausdruck zu bringen.

 

            Berühre uns, damit alles, was wir tun, ein Zeugnis für den Glauben und die Hoffnung ist, daß der Aufbau einer besseren Welt möglich ist. Laß nicht zu, daß der graue Alltag mit seinen Frustrationen und unausweichlichen Hindernissen unseren Elan erstickt. Schenk uns die Fähigkeit zu erkennen, daß wir in und mit Dir umgestaltet wurden, um in der Welt Deine Gestalt und die Gestalt des heiligen Johannes von Gott weiter aufstrahlen zu lassen.

 

2.         Unsere Identität

 

            Wohl nie zuvor in der Geschichte hat sich der Mensch so intensiv über seine Identität befragt wie heute. Wer sind wir, wer bin ich, wozu bin ich berufen usw.

 

            Das Ordensleben hat eine Zeit tiefgreifender Erneuerung erlebt, die von der Kirche mit dem Konzilsdekret “Perfectae Caritatis”, dessen Untertitel bezeichnenderweise Über die zeitgemäße Erneuerung des Ordenslebens lautete, gefordert und eingeleitet wurde. Auch wir haben uns in diesem Rahmen befragt, wer wir sind und wie wir leben und handeln sollen, um unserer Berufung in der heutigen Welt gerecht zu werden.

 

            Zu dieser Identitätssuche wurden uns vor allem drei Orientierungshilfen empfohlen: das Evangelium, die Urquellen unserer Gemeinschaft (Gründergestalt und Tradition) und die Zeichen der Zeit. Wir haben uns bemüht, unserem Leben an diesen drei wesentlichen Punkten eine Neuorientierung zu geben. Gewiß waren wir dabei nicht auf der ganzen Linie erfolgreich, doch ich bin überzeugt, daß niemand der gute Wille dazu gefehlt hat. Im folgenden möchte ich auf dem Hintergrund dieser drei Schwerpunkte einige Aspekte unserer Identität erhellen.

 

2.1.      Das Zeugnis unseres Lebens

 

            Die Evangelien geben Zeugnis von dem größten Zeugen der Menschheits- und Heilsgeschichte: Jesus von Nazareth. Sie geben auch Zeugnis von seinen Jüngern. Die Kirche hatte, ihre ganze Geschichte hindurch, zahlreiche Zeugen. Johannes von Gott war, vor allen anderen Dingen, ein lebendiger Zeuge. Analog dazu ist das Leben seiner ersten Gefährten und die Tradition des Ordens ein bis heute fortdauerndes Zeugnis. Eine Tradition verliert ihre Wirkung, wenn sie nicht ein lebendiges Zeugnis ist. Unsere Welt braucht nicht so sehr Lehrer als vielmehr Zeugen und akzeptiert Lehrer nur insofern sie glaubwürdige Zeugen sind (vgl. Paul VI., Evangelii Nuntiandi 41).

 

            Sowohl Jesus von Nazareth als auch Johannes von Gott und die Welt, in der wir leben, fordern von uns, daß wir uns zu Zeugen machen, zu Zeugen für ein am Evangelium, Johannes von Gott und den Zeichen der Zeit ausgerichtetes Leben.

 

            Ein Kennzeichen unserer menschlichen Begrenztheit ist die Inkonsequenz. Wir verpflichten uns oft zu Dingen, die wir dann nicht einhalten. Oder rechtfertigen Dinge, für die es keine Entschuldigung gibt, weil es uns Mühe kostet, von bestimmten Verhaltensweisen und Gewohnheiten Abschied zu nehmen.

 

            Ein evangelisches Lebenszeugnis verlangt Radikalität: Jesus lädt uns ohne Umschweife zu einer radikalen Nachfolge ein, obwohl er nachsichtig mit unseren Schwächen ist. Er verzeiht seinen Jüngern ihre Fehler und Anfälligkeit, obwohl er selbst darüber erhaben ist. Jesus lehrt uns, daß sein Joch nicht drückt und seine Last leicht ist (vgl. Mt 11, 30): Seine Radikalität ist offen für Erbarmen und Versöhnung. Er kennt unsere Schwächen und verlangt von uns nichts Menschenunmögliches. Aber er will, daß wir uns ihm gleichgestalten, daß wir uns umgestalten, damit er durch unser Leben sichtbar wird und seine Gegenwart durch das Zeugnis unseres Lebens, das sich an Johannes von Gott orientieren muß, in der Geschichte der Menschheit lebendig bleibt (Konst. 2c; 3a).

 

            Ich habe bereits auf einige große Gestalten unseres Ordens hingewiesen, die mit Johannes von Gott das spezifische Charisma unserer Gemeinschaft im Lauf der Geschichte weiter gegeben haben. Ich bin nun seit 32 Jahren Barmherziger Bruder und habe stets mit großer Freude die Bemühungen des Ordens verfolgt, sein lebendiges Erbe in Johannes von Gott, in unserer Tradition und in den Brüdern, die uns vorausgegangen sind, neu zu entdecken und zu pflegen. Ganz besonders aufmerksam habe ich diese Arbeiten in den letzten zwei Jahren verfolgt. Ich bin froh über alle Unternehmungen, die zu einem besseren und tieferen Verständnis der Gestalt des heiligen Johannes von Gott beitragen und ihn uns immer mehr als das erkennen lassen, was er wirklich war: nicht nur Johannes von Gott, sondern auch Johannes von den Menschen. Hören wir nie auf, uns von seiner Gestalt faszinieren zu lassen.

 

            Daneben können wir auch viel Kraft und Mut aus dem Vorbild zahlreicher lebender Mitbrüder schöpfen, vor denen ich mich immer wieder als kleiner und schwacher Mensch entdecke. Ich bin immer wieder beeindruckt von dem Zeugnis dieser Brüder und habe keine Mühe zuzugeben, daß es ihnen gelungen ist, sich auf innige Weise Johannes von Gott gleichzugestalten.

 

            Johannes von Gott lädt uns mit seinem Lebenszeugnis ein zu zeigen, daß das Leben eines Barmherzigen Bruders ein Leben ist, das es sich lohnt zu wagen.

 

            Wir sollen Zeugen sein. Unsere Welt braucht Zeugen. Die Kirche braucht Zeugen. Wir leben in bisweilen stark unterschiedlichen Gesellschaftssystemen. Doch das Konsumdenken,  der Materialismus und  der Hedonismus mit seinen Verblendungen sind heute in alle Winkel der Erde gedrungen. Deswegen ist das Licht unseres Charismas überall gefragt und notwendig.

 

            Man erwartet von uns, daß wir die Hospitalität zeichenhaft leben, daß wir der neuen Hospitalität Gestalt geben, indem wir Denkmuster und Tätigkeitsformen ändern. In vielen Fällen müssen wir uns dazu erst noch durchringen. Das ist ein schmerzlicher Prozeß. Doch wenn wir glaubwürdige Zeugen in der heutigen Welt sein wollen, müssen wir uns ständig fragen, wie wir am wirkungsvollsten dem Menschen von heute dienen können. Genauso wie Johannes von Gott, der sagte:”Jesus Christus möge mir die Zeit und die Gnade gewähren, daß ich ein Hospital habe, in dem ich die armen Menschen, die verlassen und der Vernunft beraubt sind, sammeln kann, um ihnen zu dienen, wie ich es wünsche!” [1]

 

2.2.      Die prophetische Dimension, die unser Leben haben soll

 

            Das Ordensleben ist von Natur aus prophetisch. Es strebt danach, so zu sein wie das Leben der Propheten in der Heiligen Schrift.

 

            Die Kraft der Prophetie erwächst aus der Wahrheit, die der Prophet sagt. Der Prophet macht sich zum Sprecher Gottes und bekundet seinen Willen. Der Prophet ist eine Gestalt, die auf das wahre Leben hinweist, ist eine Gestalt, in der das Transzendente aufleuchtet, ist eine Gestalt, die als ethische Instanz auftritt, ist eine Gestalt, die um die innigsten Bedürfnisse der Menschen weiß, ist eine Gestalt, die mit Schlichtheit, Freude und Hoffnung in solidarischer Verbundenheit mit den anderen lebt.

 

            P. Ex-General Brian O’Donnell hat in einer seiner Schriften Johannes von Gott als Diener und Prophet[2] dargestellt, zwei Qualitäten, die sich in der Dimension der Selbstentäußerung (Kenosis) und des Dienstes (Diakonie) zu einer harmonischen Ganzheit verbinden.[3]

 

            Das Ordensleben mit seiner prophetischen Ausrichtung und Johannes von Gott als furchtloser Prophet seiner Zeit machen es uns zur Aufgabe, unserem Leben eine prophetische Richtung zu geben.

 

            Johannes von Gott hat uns mit seinem Leben in prophetischer Weise gezeigt, wie das Wort Gottes in der Dimension der Hospitalität konkret gelebt und umgesetzt werden kann. Sein Leben war ein ständiges Zeigen auf Gott. Deswegen nannte man ihn auch Johannes von Gott. Er wußte um die tiefsten menschlichen Bedürfnisse und begegnete ihnen mit großer Solidarität, indem er sich mit Schlichtheit, Freude und Zuversicht seiner selbst entledigte, um ganz für die anderen da zu sein, sich ihnen ganz zu schenken, restlos zu dienen und sich vorbehaltlos für ihr Leben einzusetzen.

 

            Wir haben die Aufgabe, uns wie er zu Propheten zu machen. Wir sollen in unserer Welt, die es uns sicher nicht leicht macht, gestaltgewordenes Wort Gottes sein, konsequente Zeugen des Transzendenten, und dabei Schlichtheit, Freude und Hoffnung ausstrahlen.

 

            Ist das möglich? Aus meiner Erfahrung und Kenntnis des Ordens kann meine Antwort darauf nur Ja lauten. Wir sind Propheten und dürfen nur nie vergessen, die prophetische Aussagekraft unseres Lebens zu verstärken. Vielleicht sehe ich die Dinge zu optimistisch. Es wird sicher einige geben, die dagegen halten, daß unsere prophetische Zeichenhaftigkeit immer schwächer wird.

 

            Ich habe Vertrauen zu Gott, ich habe Vertrauen zum Heiligen Geist, der unsere Gemeinschaft bei den Entscheidungen leiten wird, nach denen wir unser gegenwärtiges und künftiges Handeln ausrichten sollen, auch wenn sie nicht die Zustimmung aller Beteiligten finden werden und es immer wieder Mißverständnisse und Unverständnis geben wird.

 

2.3.      Mit einer eigenen Spiritualität

 

            Johannes von Gott hat uns ein wichtiges spirituelles Vermächtnis hinterlassen. Sein Leben war ein eminent charismatisches. Er zog viele Menschen in seinen Bann und gewann sie als Mitarbeiter. Einige von ihnen beschlossen, so zu leben wie er. Sie bildeten den Kern, aus dem sich später unsere Ordensgemeinschaft entwickelt hat. Sie verehrten Johannes von Gott als ihre Leitfigur. Seine große persönliche Integrität hat sie vom Wert seiner Lebensform überzeugt.

 

            Die ersten schriftlichen Zeugnisse dieser Urgemeinde gehen auf die Jahre zwischen 1570 und 1580 zurück. Bei seinem Tod im Jahr 1550 hinterließ Johannes von Gott eine charismatische Gemeinde mit einem eigenen Gemeinschaftsleben, das auf die Umwelt auszustrahlen begann. Nach und nach wuchs die kleine Gemeinde. Es schlossen sich ihr vor allem Menschen an, die bereits im Krankendienst tätig waren und als Brüder des Seligen Johannes von Gott nach seiner Leitidee den Dienst am leidenden und an den Rand gedrängten Menschen erfüllen wollten.

 

            Die Spiritualität des heiligen Johannes von Gott und ihr Fortwirken in der Geschichte hat in den Biographien, die über unseren Ordensvater geschrieben wurden, und in den verschiedenen Fassungen unserer Ordenskonstitutionen einen faßbaren Niederschlag gefunden, obwohl ihr Hauptzweck nicht der einer spezifischen Aufarbeitung unserer Spiritualität war. Manchmal mögen sie sogar am authentischen spirituellen Erbe unserer Familie vorbeigezielt haben. Doch begegnen wir in diesen Schriften zweifellos einem großen Teil unserer spezifischen spirituellen Werte. Ist unser Leben nicht innig von diesen spirituellen Werten durchdrungen, verliert es seine Kraft, ja hört letztendlich sogar auf, Leben zu sein.

            In unserer Welt voller Kontraste, in der das Phänomen der Säkularisierung dominiert, besteht trotz allem ein großer Hunger nach Spiritualität. Diese Tatsache wurde im IV. Teil des Kapitelsdokumentes “Neuevangelisierung und Hospitalität an der Schwelle zum dritten Jahrtausend” mit Nachdruck betont und können wir selbst immer wieder feststellen.

 

            Seit Jahren wurde, vor allem von seiten der Ausbilder, der Wunsch geäußert, daß unsere spezifische Spiritualität in einer eigenen Publikation niedergelegt werden sollte. Wir besitzen dazu zwar einen Text von P. Gabriel Russotto aus dem Jahr 1958 und auch die Doktorarbeit von P. José Sanchez hat hierzu wertvolle Grundlagenforschung geleistet.

 

            Zur Zeit arbeitet man, gemäß einem Wunsch des letzten Generalkapitels, an der Erstellung eines eigenen Buches über unsere Spiritualität. Das ist einmal ein Zeichen dafür, daß eine solche schriftliche Publikation als notwendig erachtet wurde, und zum anderen, daß diese Spiritualität durch uns Brüder bereits in der Praxis existiert und wirkt.

 

            Mein Wunsch ist, daß Ihr erkennt, wie eminent wichtig es ist, daß wir spirituelle Menschen sind, immer tiefer in die Spiritualität des heiligen Johannes von Gott hineinwachsen und uns bemühen, die ideellen Grundlagen aufleuchten zu lassen, von denen sein Handeln ausgegangen ist. In seinen Briefen begegnen wir zahlreichen Worten, die ihm aus dem Herzen kommen und ein Zeugnis für seine spezifische Spiritualität sind.

 

            Heute besteht vielfach die Angst, daß wir uns zu sehr der Vergangenheit zuwenden und - im Gegenzug - von der uns umgebenden Realität abwenden. Doch diese Gefahr darf es für uns nicht geben. Denn es geht darum, daß wir unsere geschichtlich gewachsene Spiritualität in der Welt, in der wir leben und die Gott liebt und umsorgt, zur Entfaltung bringen, mit dieser unserer Spiritualität unsere Gesundheits- und Sozialstrukturen durchdringen, das Leiden und die Bedrängnis des kranken und hilfsbedürftigen Menschen lindern, das Miteinander mit unseren Mitarbeitern stärken, die Humanisierung und Evangelisierung fördern, die ethischen Probleme erhellen... kurz: das Werk des heiligen Johannes von Gott im Heute mit neuen Denk- und Handlungsweisen im Zeichen der Neuen Hospitalität fortführen.

 

2.4.      Dem leidenden Menschen den Vorzug geben

 

            In den Verlautbarungen der Kirche und in den Ordensgemeinschaften selbst ist heute viel die Rede von der Vorzugsoption für die Armen. Ich stimme dieser Orientierung vorbehaltlos zu, auch wenn der Begriff Armut ein sehr relativer ist und es uns nicht immer gelingt, mit unserem Leben ein glaubwürdiges Zeugnis für unsere Nähe zu den Armen zu geben.

 

            Johannes von Gott war immer an der Seite der Armen, war immer ein Anwalt der Armen. Zum besseren Verständnis muß dazu gesagt werden, daß für ihn der Begriff Armut auch die Krankheit mit einschloß, weil er in der Krankheit eine Äußerung der menschlichen Armut sah. Bis heute ist der leidende Mensch im allgemeinen Sprachgebrauch ein “armer” Mensch. In derselben Optik wird er auch von dem Apostolischen Schreiben Vita Consecrata (82) gesehen. Es stimmt zwar, daß es unter den Kranken solche gibt, die über mehr Mittel zur Linderung ihrer Leiden verfügen als andere; doch damit ist nicht gesagt, daß sie diese Linderung oder Besserung auch immer erwirken. Ohne die Radikalität der Vorzugsoption für die Armen abschwächen zu wollen, glaube ich, daß wir wie Johannes von Gott in allen leidenden Menschen arme Menschen sehen sollten.

 

            Ich stelle mich deswegen ganz hinter die Beschlüsse der letzten Provinz- und Generalkapitel, bei denen man sich für die Option aussprach, daß sich der Orden den Hilfsbedürftigsten unter den Leidenden zuwenden soll und dabei den Universalismus beweisen soll, der Johannes von Gott kennzeichnete und ihn dazu drängte, immer mit großer Offenheit und Hellhörigkeit für die Not jedes “leidenden” Mitmenschen empfänglich zu sein, weil er, wie wir gesehen haben, immer auch ein “armer” Mensch ist.

 

            Diese Option erschließt uns den Grund unseres Seins und Handelns als Barmherzige Brüder. Wir sollen offen sein für die Armen, die Kranken und die Hilfsbedürftigen. Immer und überall. Für alle und jedermann. Ein Barmherziger Bruder sein, heißt vor allem dies: Unabhängig von den Schwierigkeiten, denen wir auf unserem Weg begegnen, soll es in und bei uns immer einen offenen Raum für den Menschen in Not geben - mit anderen Worten: praktizierte Hospitalität erfahrbar sein.

 

            Die Hospitalität gehört zu unserem innersten Wesen, und zwar kraft des Charismas, mit dem wir beschenkt wurden, kraft der Weihe, die wir empfangen haben und kraft der fundamentalen Option, auf die wir uns verpflichtet haben. Deswegen dürfen wir dieser Option nicht untreu werden und uns nie von der Welt des Leidens entfernen, sondern in ihr bleiben und in sie die heilbringenden und Frieden stiftenden Erfahrungswerte bringen, die Johannes von Gott an uns weitergegeben hat und im Grunde nichts anderes sind als das Heilsvermächtnis Jesu Christi.

 

            Unsere Konstitutionen sprechen eine klare Sprache, wenn sie fordern, daß unsere Werke ausschließlich im Blick auf unsere Sendung zu organisieren und die Güter nie als Mittel der Macht, sondern immer als Werkzeuge des Dienstes anzuwenden sind (vgl. Konst. 13b). Eine solche Ordnung, und keine andere, muß in allen Gegebenheiten das Gütesiegel unserer Option sein.

 

            Die rückläufige Zahl der Brüder in vielen Provinzen hat dazu geführt, daß wir unsere Sendung neu einzuordnen versucht haben. Auf diese Notwendigkeit hat der Heilige Vater in Vita Consecrata, insbesondere mit Bezug auf die Situation der Ordensinstitute in einigen Regionen der Welt, hingewiesen (54, 55, 56 und 63). Dieser Neueinordnung darf jedoch in keinem Fall unsere fundamentale Option für den leidenden Menschen geopfert werden: Wir müssen auch weiterhin, wie der heilige Johannes von Gott, hellhörige Vorposten für die Leiden unserer Mitmenschen bleiben und den vitalen Kontakt zu ihnen aufrecht erhalten.

 

            Jeder andere Weg würde zu einer Entfremdung von unserer eigentlichen Bestimmung und Identität führen. Die Aufgabe, mit der der eine oder andere zur Zeit im Orden betraut ist, mag bewirken, daß er mit anderen Dingen beschäftigt ist, doch das darf keinen von uns daran hindern, eine ganz konkrete Nähe zu den leidenden Menschen im allgemeinen und zu denen in unseren Häusern im besonderen zu bewahren. Auch der heilige Johannes von Gott war oft mit anderen Dingen beschäftigt, vernachlässigte darüber jedoch nie, den Kranken, Armen und Hilfsbedürftigen seine Nähe zu bekunden.

 

2.5.      Wir sind Ordensleute

 

            Bereits in der Taufe wurde der Grund für unsere spätere Berufung zu Ordensleuten gelegt. Als solche unterscheiden wir uns von den Laien und den Priestern (vgl. Vita Consecrata 4). Wir gehören dem Hospitalorden an, der von Johannes von Gott gegründet wurde und vom heiligen Pius V. am 1. Januar 1572 approbiert worden ist (vgl. Konst. 1).

 

            Unsere Aufgabe heute ist, mit dem Lebensstil, der Ordensleuten zu eigen ist, das Erbe der Hospitalität fortzuführen. In unserer säkularisierten Welt, die gleichwohl das Zeugnis von glaubenden Menschen und Ordensleuten braucht, sollen wir die Gegenwart des barmherzigen Gottes als “Freund der Menschen” sichtbar und erfahrbar machen.

            Das Charisma der Hospitalität ist eine Gabe Gottes an seine Kirche. Johannes von Gott wurde mit dieser Gabe beschenkt und hat sie uns, seinen Brüdern, als Erbe vermacht. Doch auch andere Menschen werden mit dieser Gabe beschenkt und bringen sie gemäß ihrer Identität in einer anderen Lebensform im Dienst am kranken und hilfsbedürftigen Menschen zur Entfaltung.

 

            Daraus erwächst uns die unabweisbare apostolische Forderung, als Ordensleute darauf hinzuarbeiten, daß unsere Mitarbeiter so weit als möglich aus dem Glauben oder den menschlichen Werten am Charisma der Hospitalität beteiligt werden (Vgl. Die Barmherzigen Brüder und ihre Mitarbeiter: Gemeinsam dem Leben dienen, Nrn. 114-124).

 

            Der Umstand, daß wir ständig mit der säkularen Welt in Berührung sind, darf keinesfalls dazu führen, daß darin unsere Identität als geweihte Menschen untergeht, die in Gemeinschaft leben, ständig das Gespräch mit Gott im Gebet suchen, einen bestimmten Lebensstil pflegen und ihre Arbeit mit dem tieferen Sinn ihrer Weihe erfüllen. Wir sollen uns zwar den Gegebenheiten der Zeit anpassen, doch dieser Anpassung darf nie unser tieferes Sein geopfert werden. Wir sind geweihte Mitglieder der Kirche und müssen uns als solche überall und jederzeit zu erkennen geben.

 

            Der Heilige Vater fordert im Absatz Nr. 25 von Vita Consecrata, daß wir Ordensleute unser Geweiht-Sein durch sichtbare Zeichen zu erkennen geben sollen und weist auf das Ordensgewand als einem solchen sichtbaren Zeichen der Weihe hin. Wo es erforderlich ist, empfiehlt er, daß wir schlichte Kleidung mit einem geeigneten Symbol tragen sollen, das unsere Weihe erkennbar macht. Ich glaube, daß wir diese äußeren Zeichen verstärkt pflegen und schätzen sollten. Ohne in auffallender oder provozierender Weise aufzutreten, soll es unser Bemühen sein, gemäß dem Brauchtum in den verschiedenen Ländern, die Forderungen unserer säkularisierten Umwelt mit den Forderungen des religiösen Zeugnisses, das wir geben wollen, in Einklang zu bringen. Doch ganz besonders sollen wir um die Integrität unseres Lebens bemüht sein, die der wahre Prüfstein für die Glaubwürdigkeit unserer Weihe ist.

 

2.6.      Wir sind ein Brüderorden

 

            Wir sind Mitglieder eines Brüderordens, auch wenn einige von uns auf den Titel der Hospitalität zu Priestern geweiht werden können.

 

            In Vita Consecrata sind die drei in der Kirche bestehenden Lebensstände - Laien, Priester und Ordensleute - klar definiert worden. Zur genaueren Abgrenzung wird darin auch empfohlen, die Ordensinstitute, die bisher als laikale Institute bezeichnet wurden, in Zukunft Brüderorden zu nennen (vgl. Nr. 60).

 

            Die Einführung dieser neuen Terminologie wird damit begründet, daß die Bezeichnung Brüder auf eine reiche Spiritualität hinweist: Die Ordensmänner sind berufen, Brüder Christi zu sein, dem Erstgeborenen von vielen Brüdern; Brüder untereinander zu sein in der gegenseitigen Liebe und in der Zusammenarbeit im selben Dienst zum Wohl der Kirche; Brüder eines jeden Menschen zu sein durch das Zeugnis der Liebe Christi zu allen, besonders den Niedrigsten und Bedürftigsten; Brüder zu sein für eine größere Brüderlichkeit in der Kirche; Brüder zu sein zur Stiftung brüderlicher Bande in der heutigen Gesellschaft.

 

            Brüder zu sein, durch die die Brüderlichkeit unter den Menschen wächst, sollte eines der Grundelemente unseres Lebens sein. In einer gespaltenen Welt, in einer ganz auf Leistung und Nutzen ausgerichteten Gesellschaft, in einer Kirche, die sich als Gemeinschaft versteht, muß unser Bruder-Sein und unser Brüderlichkeit stiftendes Leben damit beginnen, daß wir untereinander keine Trennwände aufbauen, sondern eine Haltung pflegen, die die Einheit fördert.

 

            Natürlich begegnen wir alle, auch ich, immer wieder Spannungen und Problemen in unseren brüderlichen Beziehungen. Doch das hat für mich noch nie bedeutet, daß ich irgend jemand meine brüderliche Verbundenheit aufgekündigt hätte. Ich will das auch in Zukunft so halten. Aus Erfahrung und den Gesprächen, die ich mit vielen von Euch führen konnte, weiß ich, daß wir alle ganz besonders darunter leiden, wenn es Probleme im Miteinander mit den Mitbrüdern gibt.

 

3.         Der Sinn unserer Weihe

 

            Bei den Überlegungen, die ich auf den vorhergehenden Seiten zu unserer Identität und unserer Berufung als Ordensleuten und geweihten Personen angestellt habe, habe ich bereits verschiedentlich auf den Sinn unserer Weihe hingedeutet. Wir haben die umfangreichen nachkonziliaren Schriften, theologischen Reflexionen und Verlautbarungen des Lehramtes zu diesem Thema gelesen und daraus viel gelernt. Wir haben erkannt, daß bei der Ausgestaltung der Gelübde dem Einzelnen und seiner persönlichen Entfaltung eine eminent wichtige Rolle zufällt.

 

            Ich möchte nicht, daß Ihr denkt, daß ich Themen aufgreife, die der Vergangenheit angehören und uns nichts mehr angehen, weil wir aus dem Kindesalter herausgewachsen sind und sie uns auch sonst wenig zu sagen haben. Gerade weil ich überzeugt bin, daß wir hier vieles in unbefriedigender Weise  einlösen, möchte ich Euch in positiver Weise zum Nachdenken einladen, damit der tiefere Sinn unserer Weihe, wo immer wir auch sein mögen, wirksamer zum Tragen kommt.

 

3.1.            Jungfräulichkeit um des Himmelreiches willen

 

            Mit der Entscheidung für die Jungfräulichkeit haben wir unserer menschlichen Liebesfähigkeit eine ganz konkrete Richtung und Qualität gegeben (vgl. Vita Consecrata Nr. 26)..

 

            Diese Entscheidung beinhaltet, daß wir enthaltsam leben, unsere Triebe sublimieren und unsere Existenz zu einem harmonischen Ganzen gestalten. Sie beinhaltet, daß wir zurückhaltend beim Essen und Trinken sein sollen sowie unpassende Schrifterzeugnisse und Filme vermeiden sollen, die heute sehr zahlreich hergestellt werden und uns, ohne daß wir uns dessen bewußt sind, davon abhalten, unserem Keuschheitsversprechen treu zu bleiben.

 

            Ich habe nicht die Absicht, Euch mit Skrupeln zu quälen. Trotzdem halte ich es für sinnvoll, dieses Thema ganz offen anzusprechen. Ich betrachte mich als einen ziemlich liberalen Menschen; wahrscheinlich bin ich unter gewissen Gesichtspunkten sogar zu liberal.  Dessenungeachtet bin ich der Meinung, daß die Welt, in der wir leben, unter diesem Aspekt sehr provozierend ist und wir dieses Argument nicht unterschätzen dürfen, wenn wir gewisse Schwierigkeiten überwinden und unserem Leben eine angemessene Orientierung geben wollen. Das Gebet kann uns hier eine unschätzbare Hilfe sein, denn in ihm pflegen wir nicht nur die Freundschaft mit Gott, sondern geben unserem Leben auch Halt und Ruhe.

 

            Die Jungfräulichkeit ist ein Geschenk. Gott hat uns dazu berufen, als geweihte Personen zu leben. Er hat uns dazu befähigt, seinen Ruf zu erwidern. Diese Erwiderung verlangt jedoch, daß unser Leben einen Qualitätssprung macht, damit sie frei gegeben werden kann und Ausdruck der zwischen Gott und uns bestehenden Freundschaft ist. Sowohl eine freizügige als auch eine überstrenge Auffassung der Keuschheit, die sie zu einer ständigen Belastung und Bedrückung werden lassen kann, verursachen Probleme, die sich in manchen Fallen zu regelrechten Obsessionen entwickeln, die einen unbeschwerten Umgang mit ihr unmöglich machen.

 

            Eine unbeschwert erlebte Jungfräulichkeit gibt uns hingegen die Fähigkeit, unser Liebesvermögen universell zur Entfaltung zu bringen. Wir konzentrieren unsere Liebe nicht auf eine bestimmte Person, sondern unser Herz ist, indem es frei von allen Bindungen ist, offen für alle.

 

            Es mag etwas radikal klingen, doch ich bin überzeugt, daß ein Herz nur in dem Maß universell, das heißt offen für alle zu sein imstande ist, in dem es jungfräulich ist. Deswegen sollten wir uns fragen, ob gewisse Bindungen unsere Jungfräulichkeit nicht gefährden. Wahrscheinlich sündigen wir nicht gegen die äußerlichen Inhalte des Gelübdes. Trotzdem bin ich überzeugt, daß wir unser Herz oft an gewisse Dinge hängen, die den Universalismus stark beeinträchtigen, zu dem wir kraft unserer Weihe berufen sind.

 

            Jungfräulichkeit wird oft mit Unfruchtbarkeit in Verbindung gebracht. In unserem Fall verhält es sich umgekehrt. Gerade durch die Jungfräulichkeit bezeugen wir die Fruchtbarkeit unseres Lebens im Apostolat der Liebe (vgl. Konst. 10). Die Freiheit, die uns aus dieser Entscheidung erwächst, dient nicht dazu, daß wir uns auf uns selbst konzentrieren - das wäre purer Egoismus -, sondern dazu, uns ganz den anderen zu schenken. Dadurch trägt unser Leben Frucht. Wir arbeiten dafür, daß die Menschen das Leben haben, ein Leben, das zwar anders als das physiologische ist, doch immer Leben ist. Das ist letztlich auch der Grund, weswegen wir an eine Kultur des Lebens und an eine Zivilisation der Liebe glauben und uns für ihren Aufbau einsetzen.

 

            Wir müssen heute Aspekten Rechnung tragen, denen früher nicht die gebührende Aufmerksamkeit geschenkt wurde. Wir sollen unser Gefühlsleben pflegen und ihm eine gesunde Richtung geben, damit wir imstande sind, unseren Mitbrüdern, Mitarbeitern und Betreuten, deren Familienangehörigen, unseren Freunden und Wohltätern unsere Nähe spüren zu lassen. Ein Bruder, der Gefühlsarmut oder sogar Gefühlskälte demonstriert, kann dem Menschen nicht ein Bruder sein. Ich will mich nicht lächerlich machen, doch es ist ein Faktum, daß heute in verschiedenen Publikationen von der weiblichen Dimension der Hospitalität gesprochen wird.

 

            Ich akzeptiere, bejahe und verstehe den besonderen Charakter eines jeden. Meine Grundeinstellung zu einem jeden ist die Achtung. Trotzdem erlaube ich mir zu behaupten, daß die Jungfräulichkeit bei uns Barmherzigen Brüdern Gefühlsäußerungen mit einschließt, die in keiner Hinsicht dem Keuschheitsgelübde zuwiderlaufen oder unserer Mannesehre Abbruch tun. Vor allen anderen Dingen wird von uns ein besonderes Fingerspitzengefühl verlangt. Gerade hier zeigt sich der Reichtum einer authentisch gelebten Jungfräulichkeit.

 

3.2.            Evangelische Armut

 

            Der Begriff Armut ist, wie wir bereits gesagt haben, ein relativer. Es gibt viele Formen von Armut. Auch wenn wir selbst schlicht und einfach leben, werden wir oft von unserer Umwelt nach den bisweilen gewaltigen Mitteln beurteilt, die zum Betrieb unserer Werke notwendig sind. Deswegen sieht man in uns nicht selten gut bemittelte, wenn nicht gar reiche Menschen.

 

            Wir haben unser Leben der Armut geweiht. Unser Leitbild ist dabei einmal mehr der heilige Johannes von Gott, der sein Leben vorbehaltlos den Armen und Hilfsbedürftigen gewidmet und sich mit ihnen arm gemacht hat.

            Die Mehrzahl von uns lebt in einer Situation, die der des gehobenen Mittelstandes vergleichbar ist. In den jüngsten Studien, die über die Gestalt des heiligen Johannes von Gott angestellt wurden, werden wir eingeladen, uns von der barocken Darstellung des Heiligen zu lösen und den wahren, reinen und von allen geschichtlichen Überlagerungen befreiten Johannes von Gott wieder zu entdecken.

 

            Diese Rückbesinnung will nicht nur historisch-wissenschaftlichen Wert haben, sondern zu einer wahrheitsgemäßeren Einbeziehung der Gestalt des Heiligen in unser Leben anregen.

 

            Wie vorher beim Thema der Keuschheit, besteht auch hier kein Grund, daß wir uns  Asche aufs Haupt streuen. Bestimmte Dinge - künstlerische, kulturelle und soziale Leistungen genauso wie religiöse Ausdrucksformen - sind zu einem festen Bestandteil unseres Erbes geworden und sollen als solche respektiert und gepflegt werden. Außerdem stehen alle diese Dinge in einem direkten Bezug zu unserem Sendungsauftrag, zu dessen Erfüllung wir von allen Mitteln, die uns zur Verfügung stehen, Gebrauch machen sollen, damit wir den Kranken und Hilfsbedürftigen eine  möglichst wirksame Betreuung anbieten können.

 

            Im Zusammenhang mit der Armut sollte unsere Sorge daher nicht so sehr diesen materiellen Aspekten, als vielmehr den spirituellen und ideellen gelten. Ich meine damit, daß wir prüfen sollten, inwieweit unsere Verhaltens- und Denkmuster von dem heute allenthalben bestehenden Konsumdenken beeinflußt sind und inwieweit wir im Gegenstrom dazu imstande sind, als Anwälte der Armen, Niedrigen und Schwachen aufzutreten. Wir sollten an uns selbst arbeiten, um die Fähigkeit zu erlangen, wahrhaftig zur Befreiung des Menschen beizutragen, und dabei bereit sein, mit den anderen das, was wir sind und haben, zu teilen. Die Theologie des Ordenslebens spricht von einer persönlichen Armut und von einer gemeinschaftlichen Armut, die beide sichtbar und wirksam erkennbar sein sollen.

 

            Ich glaube, daß der Gedanke der Kenosis-Diakonie dies wirksam zum Ausdruck bringt: Wir sollen uns von den materiellen Gütern loslösen, um uns verfügbar und solidarisch mit den Nöten des Nächsten zu machen, um uns zur Stimme derjenigen zu machen, die kein Stimmrecht haben, und für den Schutz und die Förderung dieser Menschen eintreten.

 

            Das ist alles schön und recht, werden einige von Euch sagen. Aber ist die Wirklichkeit nicht eine andere? Auch mich beunruhigt dieser Gedanke. Ich frage mich immer wieder, ob ich das Ausmaß der Armut, das uns umgibt, recht zu erfassen imstande bin und ob ich nicht dazu neige, bestimmte Verhaltensweisen an mir, die einen gewissen Aufwand erfordern, unter dem Hinweis auf die Forderungen des Amtes, mit dem ich betraut wurde, zu rechtfertigen. Trotzdem versichere ich Euch, daß es mein ehrliches Bestreben ist, wie Johannes von Gott für die Armen und Hilfsbedürftigen da zu sein. Ich bete für mich - denn ich weiß, daß ich es notwendig habe - und für Euch, daß wir stets die Kraft und die Demut zur Umkehr haben, um unsere Weihe aufrichtig im Zeichen der Armut zu leben.

 

3.3.            Gehorsam in der Freiheit der Kinder Gottes

 

            Meine Betrachtungen des Gehorsams zielen darauf, ihn als Fähigkeit zum Offensein für den Willen Gottes darzustellen. Gewöhnlich bringen wir mit dem Gehorsam Vorschriften, Normen und Anordnungen unserer Oberen in Verbindung. In der Vergangenheit bewirkte der Gehorsam vielfach, daß wir ziemlich einförmig und teilweise auch mechanisch lebten.

 

            Im modernen Denken ist hingegen dem Einzelnen und seiner Freiheit großer Raum gegeben worden. Einige vertreten die meiner Ansicht nach unbegründete Auffassung, daß die Dinge sich dadurch heute im Vergleich zu früher verschlechtert haben.

            Theoretisch versteht man heute unter Gehorsam einen persönlichen Akt, der unsere persönliche Reife und Freiheit einfordert. So spricht man denn auch im Zusammenhang mit dem Gehorsam viel vom Dialog als einem unverzichtbaren Instrument und von der Mitverantwortung, weil der Gehorsam stets aktiv und verantwortlich von dem Betroffenen vollzogen werden soll. Er soll das Wachstum des Einzelnen und der Gemeinschaft fördern.

 

            Der in unserer Kultur dominierende Rationalismus, der Mißbrauch der Freiheit, der Hang zur Selbstgenügsamkeit, die selbstverantwortliche Gestaltung der eigenen Arbeit, die früher hingegen ganz vom Gehorsam geregelt war, und andere Gründe haben bei uns dazu geführt, daß der Wirkungsbereich des Gehorsams in unserer Weihe ständig kleiner geworden ist.

 

            Heute wird viel von “Vermittlungen” gesprochen. Auf universeller Ebene geschieht diese Vermittlung durch das Wort Gottes, das Lehramt der Kirche, die Tradition, das Eigenrecht usw. Auf konkreter Ebene sollte sie durch unsere Oberen geschehen. Die Wahrheit ist, daß es uns Mühe kostet, unsere Oberen als Vermittler anzuerkennen und mithin ihre Weisungen zu befolgen.

 

            Der Heilige Vater macht uns in Vita Consecrata keine Vorschriften. Sein Ton ist nicht ein gebietender, sondern ein aufmunternder. Genauso will auch ich es halten. Wir sollen aus Überzeugung handeln. Wir sollen die Forderungen des Lebensideals, auf das wir uns verpflichtet haben, selbstverantwortlich erfüllen und nicht, weil es uns angeordnet wird.

 

            Wie ich einleitend gesagt habe, geht es darum, daß wir für den Willen Gottes offen sind. Der Obere muß wissen, daß er vor allen anderen Dingen ein Werkzeug des Dienstes ist. Wir alle müssen wissen, daß wir mitverantwortlich für den Aufbau der Brüderlichkeit sind und uns darum bemühen müssen, das Allgemeinwohl über alle anderen Dinge zu stellen. Ich will niemand belehren, doch glaube ich, daß eines unserer Defizite darin liegt, daß wir die Dimension des Glaubens nicht stark genug in unser Leben einbinden. Man darf nicht alles unter dem Hinweis auf die Freiheit rechtfertigen. Genauso wenig darf  man andere unter dem Hinweis auf den Gehorsam zermürben oder unterdrücken. Der Obere hat oft das Gefühl, daß ihm seine Aufgabe als Animator schwer gemacht wird, und die Brüder ihrerseits, daß ihnen nicht genügend Beachtung geschenkt wird. Ich denke, daß von allen Seiten mehr Umkehrbereitschaft gefordert ist.

 

            Das Dokument Das brüderliche Leben in Gemeinschaft lädt uns ein, unsere Berufung zur Gemeinschaft in ihrer ganzen Tragweite zu leben. Dazu ist menschliche Reife und Heiligkeit erforderlich. Wir sollen den Gehorsam zwar gemäß dem heutigen Denken, aber stets im Geist der empfangenen Weihe leben. Wir sollen offen für den Willen Gottes sein, indem wir die Wege und Weisungen, durch die er uns vermittelt wird, akzeptieren. Ich glaube, daß sich heute leider in der Praxis die tieferen Inhalte des Gehorsamsgelübdes stark verwischt haben.

 

3.4.            Hospitalität nach dem Beispiel unseres Stifters

 

            Während die Inhalte der Armut und des Gehorsams unserer Weihe einer klärenden Vertiefung bedürfen, liegen die Inhalte der Keuschheit und der Hospitalität greifbar auf der Hand. Die Keuschheit ist ein offenkundiges Kennzeichen der geweihten Person. Die Hospitalität ist das bestimmende Merkmal von uns Barmherzigen Brüdern. Wiederholt haben wir erklärt, daß wir uns nach dem Beispiel unseres Stifters zu gestaltgewordener Hospitalität machen sollen.

 

            Die Hospitalität hat eine theologische Verankerung. Gott sind im Lauf der Geschichte unzählige Attribute zugeschrieben worden: Gott ist die Liebe, Gott ist die Güte usw. Obwohl in den Büchern der Theologie es nie ausdrücklich gesagt wird, wage ich zu behaupten, daß Gott auch die Hospitalität ist.

 

            Indem uns Gott mit dem Charisma der Hospitalität beschenkt hat, hat er uns zu Teilhabern seiner Hospitalität gemacht. In diesem Sinn gründet die Hospitalität auf der theologischen Kategorie der Liebe. Zugleich ist sie eine menschliche Kategorie, die beinhaltet, daß man in den Raum des Anderen eintritt und in sich selbst Raum für den Anderen schafft.

 

            Johannes von Gott verwandelte sich in Hospitalität: Er nahm den Anderen auf, achtete ihn, betreute ihn, heilte ihn, versöhnte ihn, teilte mit ihm, diente ihm, half ihm, verstand ihn. Wenn wir die Hospitalität nach seinem Beispiel leben wollen, müssen wir so handeln wie er. Diesem Bemühen haben wir den Namen Neue Hospitalität gegeben:”Herr, berühre auch uns, so wie Du den heiligen Johannes von Gott berührt hast.” [4]

 

            Wie alle Institutionen, die auf eine lange Tradition zurückschauen können, hat sich auch unser Orden ständig an die neuen Gegebenheiten angepaßt. Dabei folgte man den verschiedenen Kriterien, die in den einzelnen Epochen Schule machten, und dem Spürsinn der maßgebenden Personen, die einander abwechselten.

 

            Unsere Generation hat wahrscheinlich, mehr als andere, Veränderungen erlebt, durch die die Praxis der Hospitalität tiefgreifend umgewandelt worden ist. Zahlreiche Häuser sind neu konzipiert oder sogar umfunktioniert worden, neue soziale oder medizinische Tätigkeitsformen wurden aufgenommen, die Bedürfnisse des Menschen bei Krankheit, Behinderung oder Alter haben sich verändert.

 

            Unser bestimmendes Merkmal ist die Hospitalität: Wir weihen uns zwar Gott mit vier Gelübden, doch die Haltungen, die uns aus den ersten drei erwachsen, sollen uns grundsätzlich dazu befähigen, daß wir uns zu Hospitalität machen. Deswegen bin ich auch überzeugt, daß wir uns nur in dem Maße zu Hospitalität machen können, in dem wir die drei Gelübde der Keuschheit, der Armut und des Gehorsams erfüllen.

 

            In den derzeitigen Konstitutionen wurde der volle Sinngehalt des Gelübdes der Hospitalität wiederhergestellt, indem vor allem seine theologisch-spirituelle Dimension verstärkt in den Vordergrund gestellt wurde, auch wenn diese Dimension als unmittelbar greifbarer Inhalt des Gelübdes nicht so leicht zu fassen ist.

 

            Bemühen wir uns alle, diese grundlegende Dimension unseres Lebens zu entfalten. Ohne zu untertreiben, glaube ich sagen zu können, daß dabei die Tatsache, ob wir in alten oder neuen Strukturen wirken, direkt am Krankenbett arbeiten oder nur indirekt zu ihm gelangen, keine Rolle spielt.

 

            Der Sinn unserer Hospitalität ist viel tiefer. Natürlich verlangt sie danach, in konkreten Handlungen umgesetzt zu werden. Trotzdem können wir uns, wie der heilige Johannes von Gott, immer und überall zu Hospitalität machen. Er war und schenkte Hospitalität in seinem Hospital wie auf den Straßen Granadas; im Haus der Herzogin wie in dem des Bischofs und Kronzprinzen; indem er die Prostituierten nach Toldedo begleitete oder für sie ein Haus in Granada suchte; indem er seine ersten Gefährten lehrte oder die Hilfe von Mitarbeitern in Anspruch nahm;  indem er sein Krankenhaus plante, es leitete oder mit seiner Führung andere betraute; indem er hoch aktiv war oder an sich selbst Leiden und Krankheit erfuhr; indem er betete... Wie er, sollen auch wir immer gestaltgewordene Hospitalität sein.

4.         Die Gegenwart Gottes in unserem Leben

 

            Hierzu würde ich gern die Erfahrungen eines jeden von Euch hören. Denn wir alle haben die Gegenwart Gottes in unserem Leben erfahren: durch den Glauben, den wir in der Taufe empfangen, im Schoß unserer Familie entwickelt und in unseren Heimatkirchen gefeiert haben, bevor wir zu Ordensleuten wurden. In unserer Heimatkirche offenbarte uns Gott unsere Berufung zum geweihten Leben.

 

            Wir erkannten unsere Berufung nicht durch einen Sturz vom Pferd wie der heilige Paulus oder in der überwältigenden Weise, in der sie sich Johannes von Gott gezeigt hat. Aber auch in unserem Leben ist das Wirken Gottes spürbar geworden, so daß wir uns gedrängt fühlten, in die engere Christusnachfolge zu treten und den barmherzigen Johannes von Gott nachzuahmen.

 

            Die Gegenwart Gottes im Leben des Volkes Israel, in der Kirche und in der Geschichte ist kein leeres Wort, sondern eine reale Gegebenheit. Gott, der Erlöser, ist Mensch geworden, um uns alle seiner Heilskraft teilhaftig zu machen. Gott ist zu uns Menschen herabgestiegen in der Hoffnung, bei uns eine gebührende Aufnahme zu finden. Und auch dort, wo er abgelehnt oder verkannt wird, ist er immer bereit zu verstehen, zu verzeihen und sich mit uns auszusöhnen.

 

            Die nachkonziliare Theologie schließt zwar andere Vorstellungen nicht aus, hat aber doch eindeutig ein menschenfreundliches Bild von Gott gezeichnet. In ihr begegnet uns nicht so sehr ein strenger Gott, der richtet, sondern ein milder Gott, Immanuel, der uns beim Übergang vom Leben zum Tod entgegengeht und auffängt und nicht zu einem ewigen Leben in Verdammnis verurteilen will.

 

            Gott ist seit jeher derselbe. Wir sind es, die bei der Annäherung an ihn oft diese oder jene Seite betonen und dabei Gefahr laufen, sein eigentliches Wesen zu verkennen.

 

            Unser Gott ist vor allem ein Gott der Gnade. Die Gnade ist das Element, das die Atmosphäre unserer Beziehung zu ihm bestimmt:”Wo die Sünde mächtig wurde, da ist die Gnade übergroß geworden” (Röm 5,20). Wir vergessen das gerne, obwohl gerade dieses Wissen uns das Gefühl vermittelt, daß Gott uns liebt, umsorgt und in den Wechselfällen des Lebens begleitet. Die Gnade ist Quelle und Brunnen des Lebens, eines Lebens, das von Gott kommt und in uns Übergroßes wirkt, bis wir das ewige Leben erlangen.

 

            Das sind simple Wahrheiten, die wir bei der Kinderkatechese gelernt, auf unserem weiteren Glaubensweg vertieft und uns ganz besonders im Noviziat und bei der darauffolgenden Weiterbildung angeeignet haben, die aber zu gelebter Erfahrung werden müssen. Erst auf dem Boden einer solch innigen Gotteserfahrung kann die Spiritualität reifen, die wir tagtäglich leben sollen.

 

            In einem solchen Klima der Gnade haben wir den Ruf Gottes gehört und ihn erwidert. In einem solchen Klima kam es zu einem innigen persönlichen Zwiegespräch zwischen uns und Gott. Nichts und niemand konnte uns aufhalten. Wir verließen Haus, Familie und Arbeit und entschieden uns für das Wagnis, ein Barmherziger Bruder zu werden.

 

            Wie viele glückliche Augenblicke hat uns diese Entscheidung geschenkt! Wie viele Ereignisse kommen uns in Erinnerung, bei denen wir Gott und seine Liebe spürbar erfahren durften.

 

            Die Berufung in die engere Christusnachfolge war für uns ein beglückendes Erlebnis und wirkt als solches weiter. Sie hat uns fasziniert und fasziniert uns weiter. Das Leben vergeht. Unsere Lebenskraft schwindet, doch die geheimnisvolle Gegenwart Gottes wirkt fort. Er hat uns auf die Probe gestellt, daß wir nicht selten das Gefühl hatten, ein Spielball in seinen Händen zu sein. Möglicherweise hat er uns auch durch unsere Brüder auf die Probe gestellt, doch er ist nie von unserer Seite gewichen. Deswegen haben wir immer und überall die Möglichkeit, uns ihm zuzuwenden und unsere Ergebenheit zu bestätigen.

 

4.1.            Bereicherung der Gegenwart Gottes durch das Gebet

 

            Ich habe nicht die Absicht, eine Definition des Gebetes vorzulegen. Es gibt viele Bücher, die sich mit diesem Thema befassen, allen voran die, in denen die großen Heiligengestalten ihre Erfahrung niedergelegt haben. Auch unseren Stifter zeichnete ein intensives Gebetsleben aus, mit dem er die Freundschaft zu Gott pflegte.

 

            Auf meine Besuche in unseren Kommunitäten zurückschauend, kann ich sagen, daß ich mich von Eurem individuellen wie auch gemeinschaftlichen Gebet angetan fühle. Trotzdem glaube ich, daß einige Kommunitäten noch am Stil und an der Form ihres Betens arbeiten müssen und der eine oder andere Bruder das Routinemäßige und Mechanische an seinem Beten überwinden muß, in das wir oft, ohne daß wir es merken, verfallen. Ich sehe, daß man die Gebete verrichtet, doch man sollte mehr die Innigkeit im Gebet suchen.

 

            Das Gebet ist zur Belebung unserer Beziehung zu Gott unbedingt notwendig. Erst durch das Gebet schaffen wir ein Klima der Vertraulichkeit zwischen uns und Gott. Bisweilen fällt es uns schwer, in dieses Klima einzutauchen, weil es zur Welt des Geheimnisvollen gehört.

 

            Ich weiß nicht, ob ich gut daran tue, Euch die folgenden, sehr persönlichen Erfahrungen anzuvertrauen: Seit Jahren spüre ich in meinem Leben die befreiende und heilende Gegenwart Gottes und suche und pflege diese Erfahrung. Auch in meinem persönlichen Werdegang hat es Momente der Schwäche gegeben. Momente, in denen ich Gott mit meinen Warum?, Zweifeln und Unverständnis in Frage stellte. Heute erlebe ich Gott in einer sehr persönlichen Weise, spüre, daß er an meiner Seite ist, auch wenn diese Gegenwart weiter in der Sphäre des Geheimnisvollen bleibt. Zugleich spüre ich, daß auch Johannes von Gott mein treuer Begleiter ist.

 

            Mit beiden suche ich häufig das Gespräch. Ich würde gern ständig in Kontakt mit ihnen sein, doch die Tatsache, daß ich noch nicht diese Ebene erreicht habe, bedrückt mich nicht. Eine Ahnung sagt mir, daß sich mein Leben weiter auf dieser Bahn bewegen wird. Ich bin offen für den Willen Gottes und bereit, härtere Proben zu akzeptieren, sollten die Umstände es verlangen.

 

            Bei unserem Beten spielt, wie wir alle wissen, die liturgische Dimension, vor allem die Feier der Sakramente und das Stundengebet, eine wichtige Rolle. Nicht weniger wichtig sind andere Formen des gemeinschaftlichen Gebets, die wir pflegen. Grundlegend dafür ist jedoch die verantwortliche Haltung des Einzelnen.[5]

 

            Die Kraft der Gnade vermag vieles, doch die persönliche Antwort des Einzelnen ist unabdingbar, eine Antwort, die in der Meditation, in der Suche nach Frieden, Gelassenheit und innerer Harmonie, in der Stille und in der Wüste, in den traditionellen Elementen des Gebetes: Bitten, Danken und Loben, gegeben werden soll.

 

            In einem Klima echten Gebetes ist es leichter, für den Willen Gottes offen zu sein. Er ist es, der uns trägt, formt und unsere Schritte leitet.

 

            Ich sage Euch dies, damit Ihr den Wert des Gebetes recht versteht und es schätzt. Indem ich Euch auf den Wert des Gebetes hinweise, möchte ich Euch und mich selbst daran erinnern, daß das Gebet einer der Schlüssel zur Erfüllung unserer Berufung ist. Das Gebet ist uns in allen Lebenssituationen eine Hilfe, in der Freude wie im Leiden, in der Jugend wie im Alter.

 

            Wir müssen unsere Fähigkeit ausbauen, das Leben im Licht des Glaubens deuten zu lernen. Johannes von Gott hatte diese Fähigkeit. Obwohl er ständig in Berührung mit großem Leid und Schmerz lebte, in hautnaher Nähe zu den Kranken, Armen, Verlassenen, Entrechteten und Desorientierten, verlor er nie den Mut und die Fähigkeit, Trost zu spenden, weil er überall die Hand Gottes sah.

 

            Ich habe nicht die Absicht, Euch zu belehren, wie wir beten sollen. Unsere Konstitutionen enthalten dazu klare Aussagen. Wir können je nach den Notwendigkeiten unserer Arbeit bald länger oder kürzer beten, doch nie und nimmer können wir ohne Gebet, ohne ein inniges Gebet, leben. Gerade das Beispiel, das mir viele von Euch gegeben haben, drängt mich, allen noch einmal das Gebet ans Herz zu legen. Denn die ersten Nutznießer unseres Betens sind wir selbst.

 

            Durch das Konzilsdokument Sacrosanctum Concilium sind die vielfältigen Frömmigkeitsformen der Kirche tiefgreifend erneuert worden, indem sie verstärkt auf das Mysterium Christi hingeordnet wurden. Wir alle sind in den letzten dreißig Jahren zu diesem Verständnis hingeführt worden. Die Heiligen und die Jungfrau Maria erfüllen eine wichtige Aufgabe in der Heilsgeschichte der Kirche und der Menschheit. Vertrauen wir uns der Gottesmutter und unseren Ordensheiligen und -seligen an. Das Gebet wird uns helfen, das Gespräch mit ihnen und mit Gott zu pflegen.

 

4.2.      Das Leiden - eine Wirklichkeit, die vom gütigen Gottvater her schwer zu fassen ist

 

            Die Frage nach dem Warum des Bösen, des Leidens und des Todes hat alle philosophischen Systeme und seit jeher auch das theologische Denken beschäftigt. Das Sein und Wirken Gottes wurde im Zusammenhang mit dieser Frage von einigen positiv, von anderen bisweilen sehr kritisch gedeutet. Tatsache ist, daß diese Frage zu dem Bereich der großen unergründlichen Geheimnisse gehört.[6]

 

            In der Heiligen Schrift hat dafür sowohl das Alte als auch das Neue Testament seine Erklärung gegeben. Auch die Kirche hat immer den wesentlichen Wert des Heilswerkes Gottes als Gegengewicht zur Existenz des Bösen, des Leidens und des Todes betont. Das Dogma der Ursünde ist eine Erklärung. Ohne dieses Dogma in Frage stellen zu wollen, ist man heute darum bemüht, auf diese Frage in einer anderen Form und mit einer anderen Sprache zu antworten.

 

            Wir Barmherzigen Brüder kommen bei der pastoralen Sendung, zu der wir berufen sind, ständig mit dem Leiden, der Bedrängnis, der Angst und mit dem Tod in Berührung. Realitäten, die zwar nicht immer, aber fast immer, schwer für denjenigen zu akzeptieren sind, der sie erleidet.

 

            In diese Realitäten müssen wir die heilende Gegenwart Gottes, von der ich vorher gesprochen habe, bringen. Dazu ist notwendig, daß zunächst wir für diese Gegenwart empfänglich sind. Denn nur so können wir den Personen, die, ohne daß sie es sich erklären können, von Leid und Schmerz getroffen werden, helfen, mit einer Realität fertig zu werden, von der sie in der Regel das ganze Leben gezeichnet bleiben.

 

            Unsere Strukturen sind Orte, in denen unzählige Bitten an Gott gerichtet werden, die nicht immer erhört werden; Orte, in denen sich viel Frust, Aggressivität und Ablehnung, auch gegen Gott selbst, von dem man sich Erlösung und Güte erwartet, aufbaut.

 

            Bei unserem Apostolat haben wir deswegen die wichtige Aufgabe zu zeigen, daß Gott auch im Leiden der barmherzige Gottvater bleibt, der nicht von unserer Seite weicht und unserem Leben eine transzendente Dimension gibt, Befreiung und Hilfe ist, damit wir aus dem Leiden einen Weg zu größerer Reife zu machen imstande sind.

 

            Es ist sicher keine leichte Aufgabe, anderen zu helfen, das Leiden anzunehmen. Oft kann die barmherzige Gegenwart Gottes am besten durch stille Begleitung vermittelt werden. Bisweilen haben wir auch das Glück, daß Menschen, die ihr Leiden völlig negativ erleben, unter unserer Führung erkennen, daß Gott bei ihnen ist.

 

            Bitten wir den Herrn aller Gnade, daß er uns hilft, in solchen Situationen den richtigen Weg zu erkennen und unser Apostolat mit seinem Licht zu durchdringen.

 

5.         Wir sind dazu berufen, in Gemeinschaft zu leben

 

            Wir sind von Gott zusammengerufen worden, um in Gemeinschaft zu leben. Außer zur Gemeinschaft der Kirche zu gehören, gehören wir zum Hospitalorden des heiligen Johannes von Gott und dort zu einer seiner Hausgemeinschaften.

 

            Die Hausgemeinschaft ist für uns eine theologische Realität. Sie ist der Ort, an dem wir ganz besonders Gott begegnen, denn “wo zwei oder drei in meinem Namen versammelt sind, da bin ich mitten unter ihnen” (Mt 18,20). Daher die Notwendigkeit, daß wir mit den anderen Mitgliedern der Kommunität in echter Gemeinschaft und Geschwisterlichkeit leben. Die Gabe unseres geschwisterlichen Miteinanders soll im offenen, achtungsvollen, entgegenkommenden und liebevollen Umgang miteinander Frucht tragen.

 

            Doch die Kommunität ist nicht nur eine theologische, sondern auch eine durch und durch humane Realität, gebildet aus Menschen, die eine eigene Individualität mit ihren Stärken und Schwächen haben. In unserer geteilten Welt sollen unsere Gemeinschaften zeigen, daß das menschliche Zusammenleben und die gemeinsame Umsetzung der Werte des Reiches Gottes möglich sind (vgl. Konst. 26b).

 

            Wir sind Brüder und müssen uns bemühen, die Gesellschaft mit dem Gedanken der Geschwisterlichkeit zu durchdringen. Das kann uns jedoch nur in dem Maß gelingen, in dem echte Geschwisterlichkeit die Atmosphäre in unseren Kommunitäten bestimmt. Wir sollen zu Zeugen der Gemeinschaft, ja zu “Experten der Gemeinschaft” werden.[7] Die Liebe ist die Essenz des christlichen Lebens; unser Charisma befähigt uns, zu gestaltgewordener Hospitalität zu werden. Als Menschen, die dazu berufen sind, die Liebe sichtbar zu machen, ist es unsere ganz besondere Aufgabe, die Liebe in unseren Kommunitäten zu leben, die zu “Schulen der Hospitalität” werden sollen.[8]

 

5.1.            Notwendigkeit des persönlichen Wachstums

 

            Das Lebensideal, auf das wir uns verpflichtet haben, verlangt, daß wir unentwegt an uns selbst arbeiten, um uns Christus gleichzugestalten und den heiligen Johannes von Gott nachzuahmen. Beide Gestalten sind eine eindringliche Einladung zur Heiligkeit - eine Heiligkeit, die wir, wie wir weiter oben gesehen haben, nur erlangen können, wenn wir unser persönliches Sein an den Werten und Haltungen orientieren, die Jesus und Johannes von Gott uns konkret vorgelebt haben.

 

            Die Humanwissenschaften geben uns heute viele Hilfen in die Hand, um uns besser zu verstehen und an uns zu arbeiten. Ein eingehendes Verständnis von uns selbst ist Voraussetzung, damit wir uns mit Jesus und dem heiligen Johannes von Gott identifizieren können. Die Ausformung unseres eigenen Ich ist eine Aufgabe, der wir uns mit der Hilfe der Vernunft und unter Einschluß der Gefühle stellen müssen. Nur so können wir das notwendige  innere Gleichgewicht erlangen, das Vorstufe zur Heiligkeit ist.

 

            Jeder einzelne von uns hat seine Eigenheiten: Charakter, Temperament, Qualitäten... Das eine oder andere ist formbar und bedarf der Läuterung, damit wir zu einem harmonischen Persönlichkeitsbild gelangen. Das eine oder andere Potential muß gefördert werden, damit es sich entfalten und äußern kann. Bei diesem Prozeß müssen wir immer auf unsere Leitfiguren Jesus Christus und  Johannes von Gott schauen, die beide Lerngemeinschaften, der eine mit seinen Jüngern, der andere mit seinen ersten Gefährten, gebildet haben.

 

            Mit unserer Berufung zu Brüdern sind wir zur geschwisterlichen Gemeinschaft mit anderen berufen worden. Trotz dieser gemeinsamen Zuordnung, ist ein jeder von uns verschieden. Obwohl es erstaunlich sein mag, ist keiner dem anderen gleich, sind wir alle einzigartig. Diese Unterschiedlichkeit bereichert uns, jedoch nur in dem Maß, in dem wir sie in den Dienst des Gemeinwohles zu stellen wissen. Andernfalls entwickelt sie sich zu Eigenbrötelei und ist schwer mit dem gemeinsamen Ideal der Brüderlichkeit in Einklang zu bringen.

 

            Ich kenne die Situation unserer Kommunitäten ziemlich gut. Bei meinen Besuchen, insbesondere bei den kanonischen Visitationen, habe ich Euch ermuntert, unsere Verschiedenheit gemeinschaftsstiftend zu verwerten. Bei uns gibt es Brüder, die seit 60 oder mehr Jahren im Orden sind und solche, die gerade frisch in ihn eingetreten sind; in gewissen Regionen kennzeichnen sich unsere Kommunitäten dadurch, daß sie hauptsächlich von älteren Brüdern gebildet sind und die Eingliederung jüngerer Brüder schwerfällt; in einigen Teilen der Welt wächst der Orden, in anderen verringert sich unsere Zahl. 

 

            An alle richte ich die Einladung, unermüdlich an sich selbst zu arbeiten. Nur so können wir Erfüllung in unserem Leben finden und die Selbstsicherheit erlangen, die zur Bewältigung des Lebens notwendig ist. Wir dürfen an diese Aufgabe nicht halbherzig herangehen, auch wenn wir immer wieder feststellen müssen, daß es dauernd neuer Anläufe bedarf und vieles uns nicht so gelingt, wie wir es wollen. Das Dokument Das brüderliche Leben in Gemeinschaft ermuntert uns dazu. Es setzt in einer ganz neuen Sichtweise auf das persönliche und gemeinschaftliche Wachstum und hat damit frische Luft in die Kirchenlehre gebracht.

 

            Ich weiß, daß dieses Dokument in vielen Kommunitäten bereits studiert worden ist und daß man in anderen noch daran arbeitet. Beim 63. Generalkapitel wurde ihm großer Raum gewidmet; in dem Programm für das Sexennium wird darauf ständig Bezug genommen und auch bei den Beschlüssen bei den Provinzkapiteln berief man sich häufig darauf. Der Herr wird uns helfen, daß wir uns immer mehr dem Ideal der Gemeinschaft annähern, zu dem wir berufen sind.

 

            Eine Grundvoraussetzung dafür, daß wir als Personen wachsen und unsere Persönlichkeit ausformen können, ist, glaube ich, daß wir uns annehmen, so wie wir sind.

 

            Wir müssen die Fähigkeit erlangen, uns unsere Schwächen zu verzeihen, bereit sein, die Barmherzigkeit Gottes, der Verständnis für uns hat, anzunehmen, und ein gesundes Selbstbewußtsein ausbilden,  ohne in Egoismus oder Selbstüberschätzung zu verfallen.

 

5.2.            Persönliche Freiheit und Gemeinschaft

 

            Die Freiheit ist ein Element der Selbstverwirklichung. Und auch des Heiles. In den Diskussionen der Theologen ist die Rolle, die der Einzelne  bei der Erlangung des Heiles spielt, das ja wesentlich ein Geschenk der Gnade ist, ständig neu hinterfragt worden. Die Frage ist, inwieweit die Gnade der Freiheit Raum läßt. Die Freiheit wurde seit jeher als Ausdruck der Autonomie der menschlichen Person verteidigt.

           

            Eine irrige Auffassung hat dazu geführt, daß im Gehorsam eine Beschneidung unserer Freiheit gesehen wurde. Unsere Konstitutionen erklären den Gehorsam als ein persönliches Tun, das uns zur Freiheit der Kinder Gottes führt und unser ganzheitliches Reifen fördert (Konst. 17).

 

            Die neuere Theologie des Ordenslebens ist eine Hymne an die Freiheit und stellt sie als den Bereich der Selbstverwirklichung der geweihten Person dar. In der Gemeinschaft soll ein jeder von uns er selbst sein und den persönlichen Weg entdecken, den Gott ihm vorgezeichnet hat. Diese Ausrichtung steht absolut nicht im Widerspruch zur aufrichtigen Suche nach dem Gemeinwohl. Den persönlichen Spielraum, den ein jeder braucht, beachtend, sollen wir in und aus der Freiheit unsere brüderliche Gemeinschaft begründen.

 

            Heute ist unsere äußere Lebensform weniger einförmig als früher. In Vita Consecrata heißt es dazu zutreffend:”Die Gemeinschaft in der Kirche bedeutet ja nicht Einförmigkeit, sondern Geschenk des Geistes, der auch die Vielfalt der Charismen und der Lebensformen durchdringt” (Nr. 4).

 

            Trotzdem dürfen wir bei aller Hochschätzung der Freiheit nie vergessen, daß eine übertriebene Ich-Pflege und ein übergroßes Geltungsstreben die Lebenskraft der Gemeinschaft empfindlich einschränken kann.

 

            Gerade die Zuerkennung eines uneingeschränkten  Selbstbestimmungsrechtes an den Einzelnen hat in unserer Gesellschaft zu einem maßlosen Ich-Kult geführt, einer mißverstandenen und mißbrauchten Freiheit das Wort geredet und eine allgemeine individualistische Einstellung entstehen lassen, die weite Kreise unserer Kultur prägt. Das Dokument Das brüderliche Leben in Gemeinschaft weist auf die Bedrohung, die der Individualismus und das damit in vielen Fällen einhergehende Konkurrenzdenken für die Kommunitäten bedeutet, eindringlich hin. Die Tatsache, daß wir Ordensleute heute mehr Freiheit haben, ist sicher ein Gewinn; trotzdem appelliere ich an den Verantwortungssinn eines jeden Einzelnen, damit er das, was die Achtung vor der Individualität fordert, mit dem, was die Achtung vor der Gemeinschaft fordert, miteinander in Einklang bringt.

 

            Es ist eine weitverbreitete Gewohnheit zu denken, daß es unmöglich ist, etwas Neues zu tun oder zu erlangen. Die Folge ist Entmutigung, Enttäuschung und eine negative Einstellung zu den Themen, mit denen ich mich in diesem Schreiben befasse. Einige sind der Auffassung, daß früher alles besser war. Andere vertreten auf dem Hintergrund einer mißverstandenen Freiheit Standpunkte, die schwer mit dem Weg der Brüderlichkeit in Einklang zu bringen sind. Ich will niemand ängstigen oder drohen. Eine große Hilfe für ein besseres Verständnis der Gemeinschaft könnte nach meinem Dafürhalten das gemeinsame Studium der Regel des heiligen Augustinus sein.

 

            Wie ich einleitend zu diesem Schreiben gesagt habe, möchte ich mich an Euch von Bruder zu Bruder wenden, mit einem ermunternden und positiven Grundton. Diesen Grundton will ich auch hier bewahren. Ich möchte, daß in unseren Kommunitäten der Gemeinschaftssinn und der Gedanke der Brüderlichkeit wächst. Wenn wir in Schablonen denken, uns ablehnen, uns nicht akzeptieren, uns gegeneinander ausspielen... können wir kaum einen gemeinsamen Weg gehen. Wir können uns zwar auf diese Weise bei der gegenseitigen Heiligung helfen,. fügen uns aber zugleich nicht zu unterschätzende Leiden zu und geben kein gutes Zeugnis für die Gemeinschaft.

 

            Wir haben hier viele Bezugspunkte, die uns fordern: das Evangelium, Johannes von Gott, das Lehramt der Kirche, die Theologie des Ordenslebens, die Humanwissenschaften, unsere Umgebung...

 

            Die Liebe ist die Basis der Brüderlichkeit. Johannes von Gott hat uns keine Lehre hinterlassen, wie er das Gemeinschaftsleben mit seinen ersten Gefährten gestaltete. Bis heute kennen wir jedenfalls nichts Derartiges. Wir wissen nur, daß es sich um Menschen handelte, die von Gott berührt wurden, ihr Leben radikal veränderten und, von dem beeindruckenden Lebenszeugnis des Heiligen unwiderstehlich angezogen, den Wunsch spürten, Anderen Gutes zu tun. Ich glaube, daß es für uns alle von Gewinn wäre, wenn wir gewisse fundamentale Aspekte unseres Miteinanders überdenken würden, um unseren Gemeinschaftssinn neu zu beleben.

 

5.3.      Die Animation der Kommunitäten

 

            Heute spricht man viel von der Animation der Kommunitäten. Dieser Begriff entspricht unserem Empfinden besser als Ausdrücke wie Leitung, Führung und Autorität. Das will nicht heißen, daß diejenigen, denen Verantwortung übertragen wird (in diesem Fall: die Oberen), von den damit verbundenen Pflichten befreit sind. Doch das Ordensleben hat es vorgezogen, sich von Haltungen zu distanzieren, die mehr mit Machtausübung zu tun haben als mit der Sorge, die Voraussetzungen zu schaffen, damit die anderen ihr Leben und ihre Fähigkeiten zur Entfaltung bringen können.

 

            Die Autorität ist ein Dienst. Jesus lehrt uns:”Der Menschensohn ist nicht gekommen, um sich dienen zu lassen, sondern um zu dienen” (Mt 20,28). Wenn heute die Theologie des Ordenslebens von Animation spricht, so meint sie damit die Rolle der Oberen, daß sie Animatoren der Kommunitäten und Animatoren des Apostolates in den Ordenseinrichtungen sein sollen.

 

            Die Leitung der Kommunität und des apostolischen Werkes waren in Vergangenheit immer ein und derselben Person anvertraut. Das hat man in unserem Orden seit alters her so gehalten. Heute hat man in vielen Häusern die Notwendigkeit eingesehen, an der Leitung der Einrichtung die Mitarbeiter zu beteiligen oder sie ihnen ganz zu übertragen. Andererseits hat es sich gezeigt, daß ein Bruder, der mit der Leitung einer Einrichtung betraut ist, ganz von administrativen und verwaltungstechnischen Aufgaben in Anspruch genommen ist und wenig Zeit für die Animation der Kommunität hat.

 

            Wenn wir wollen, daß unsere Kommunitäten Orte des persönlichen und gemeinschaftlichen Wachstums sind, brauchen wir Animatoren. Zahlreiche unserer Kommunitäten sind heute zahlenmäßig sehr klein. Dieser Tatsache muß Rechnung getragen werden, auch von denen, die aufgrund ihrer persönlichen Erfahrung an ein anderes Bild der Kommunität gewohnt sind. Wo man die Figur eines eigenen Animators als nicht notwendig erachtet, weil man es vorzieht, die Animation gemeinsam zu leisten, müssen auf jeden Fall der Animation des Lebens der Kommunität genau definierte Zeiten gewidmet werden.

 

            Ein erster Punkt, der in diesem Zusammenhang beachtet werden muß, ist das Profil des Animators; denn dieser Dienst kann nicht einfach improvisiert werden. Manche sind von vornherein überzeugt, daß sie nicht dazu befähigt sind. Das mag in einigen Fällen auch zutreffen. Doch was hier im Grunde gefordert ist, ist, daß man gewisse Lebensprinzipien erfüllt und viel guten Willen mitbringt.

 

            Ein Animator muß sich vor allen anderen Dingen durch ein integeres Lebenszeugnis auszeichnen. Er ist aufrichtig um sein spirituelles Leben bemüht, identifiziert sich mit der Gestalt des Stifters und mit der Tradition des Ordens, arbeitet an sich gemäß den Forderungen, die das geweihte Leben heute stellt, ist besorgt, wie er seine Aufgabe in der Kommunität besser erfüllen kann, ist dienstbereit, entgegenkommend, offen und, wenn mir der Ausdruck erlaubt ist, demokratisch. Wie Jesus in der Mitte seiner Jünger, evangelisiert, ermuntert, kennt, versteht, achtet, verzeiht und liebt der Animator seine Mitbrüder und vertraut ihnen.

 

            Animation heißt, aktiv um die persönliche Entfaltung eines jeden Mitbruders besorgt sein. Ein Animator muß mit den Mitbrüdern das Gespräch suchen. Es darf nicht sein, daß man nur bei öffentlichen Anlässen miteinander spricht. Es darf nicht sein, daß man nur über Oberflächliches miteinander spricht. Oft ist es so, daß wir mit einigen imstande sind, über Dinge zu sprechen, die unser Herz bewegen, während wir mit anderen nur Oberflächliches zu berühren bereit sind, weil wir im Grunde überzeugt sind, es mit oberflächlichen Personen zu tun zu haben. Ein anderes Motiv ist, daß ein oberflächlicher Umgang miteinander die leichteste Form der Beziehung ist und es uns erspart, uns aufrichtig mit dem Anderen auseinanderzusetzen. Doch die persönliche Begegnung ist unumgänglich, wenn wir einander zuhören, verstehen und helfen und miteinander eine Gemeinschaft begründen wollen.

 

            Zu den Aufgaben der Animation gehört naturgemäß die Belebung des spirituellen Lebens, des Gebetslebens und die harmonische Verbindung zwischen Gebet und Alltag. Dabei geht es nicht darum, unser Gewissen hinter einer spirituellen Fassade einzuschläfern. Unser Leben muß ein spirituelles Leben sein, sonst ist es gar nichts.

             

            Heute besteht ein ganz besonders großer Bedarf nach einer wahren spirituellen Animation. Darauf habe ich bei allen Provinzkapiteln vor der Wahl des Provinzials, der Provinzräte und der Prioren eindringlich hingewiesen. Das Idealprofil, das ich bei dieser Gelegenheit vom Animator zeichnete, sollte den Verantwortlichen in ihrer Amtszeit als eine Art Spiegel dienen und sie daran erinnern, wozu sie berufen wurden. Wir brauchen im Glauben verwurzelte Führerpersönlichkeiten.

 

            Eine wichtige Rolle bei der Animation spielt das Thema der Brüderlichkeit und der Gemeinschaft. Die Kirche hat uns in verschiedenen Dokumenten die Mittel gezeigt, die uns zur Verfügung stehen, um die Brüderlichkeit, wo immer wir auch sein mögen, zu fördern: den Dialog, die Familiengespräche, das Lebensprogramm, die ständige Weiterbildung u.a.m. Sicher sind dies nicht die einzigen Mittel, doch es sind wertvolle Hilfen. Wenn man nachdrücklich immer wieder auf sie hinweist, wird das schon seinen Grund haben. Vielleicht hat man von ihnen anfangs begeistert Gebrauch gemacht und dann festgestellt, daß sie nicht die erhofften Früchte gebracht haben. Damit diese Mittel erfolgreich angewandt werden können, müssen wir alle die grundlegende Bereitschaft haben, uns ständig um den Aufbau der Gemeinschaft zu bemühen.

 

            Besonders störend wirken sich hier gewisse psychologische Blockaden aus, die sich oft unbewußt ausbilden. Ich beziehe mich dabei auf Konfliktsituationen, infolge derer man sich gegeneinander verschließt und niemand bereit ist, den ersten Schritt zu tun. Ich bin überzeugt, daß solche Situationen in vielen Fällen unter einer behutsamen Führung und mit Gottvertrauen überwunden werden könnten.

 

            Ich schätze mich glücklich, daß ich bei meinen Besuchen in den Kommunitäten zahlreichen Brüdern begegnet bin, Oberen und anderen, die innig in ihrer Berufung als Barmherzige Brüder ruhen, was für mich jedesmal eine große Bestätigung ist. Doch daneben habe ich auch eine gewisse Entfremdung zwischen einigen Brüdern beobachtet, die es unter uns nicht geben darf. Ohne irgend jemand mit Schuldgefühlen belasten zu wollen, empfinde ich es als meine Pflicht, an alle Betroffenen zu appellieren, daß sie die Bereitschaft haben einzuleiten.

 

            Zum Schluß glaube ich, muß darauf hingewiesen werden, daß bei der Animation der Kommunitäten der apostolischen Tätigkeit ein großes Augenmerk gewidmet werden muß. Dort wo der Hausobere nicht der Direktor der Einrichtung ist, fällt die Leitung derselben natürlich nicht unter seine Verantwortung. Doch ist es seine Verantwortung, sich darum zu sorgen, wie seine Mitbrüder den Sendungsauftrag leben und ob sie sich glücklich dabei fühlen, ihnen zu helfen und direkt oder indirekt zur Bewältigung der Schwierigkeiten beizutragen, die sich in diesem Bereich ergeben.

 

            Weiter ist es seine Verantwortung, gemeinsam mit der Kommunität das Charisma des heiligen Johannes von Gott im Haus lebendig zu erhalten, es weiterzugeben und die Leitidee der Hospitalität im Sinne des heiligen Johannes von Gott in enger Anlehnung an die Richtlinien des Provinzialates mit Leben zu erfüllen.

 

            Bei meinen Besuchen in den Häusern habe ich wiederholt darauf hingewiesen, daß wir uns darum bemühen müssen, daß das Charisma des heiligen Johannes von Gott in und durch ausgewählte Mitarbeitergruppen bzw., soweit möglich, in und durch die gesamte Dienstgemeinschaft der Einrichtung weiterwirkt. Doch den charismatischen Kern der Häuser bildet die Kommunität der Brüder, die wie Johannes von Gott und seine ersten Gefährten lebt. Deswegen muß bei allem, was wir sind und tun, unser Sendungsbewußtsein aufleuchten, nämlich daß wir gesandt sind, die Barmherzigkeit Gottes am leidenden und an den Rand gedrängten Menschen zu bezeugen.

 

            Ich will niemand ängstigen. Mein Anliegen ist, die Dinge sachlich zu betrachten und Euch bei der Erfüllung des Ordensauftrages zu helfen. Zahlreiche Punkte, die ich Euch hier separat als meinen Mitbrüdern vorlege, habe ich bereits, unter Einschluß unserer Mitarbeiter, Betreuten und Freunde, bei anderen Anlässen, ganz besonders in den Botschaften zum 500. Geburtstag unseres Ordensvaters, angesprochen. Sie bewegen sich, wie Ihr bereits bemerkt haben werdet, auf der Linie meiner Vorgänger.

 

 

 

6.         Die Ausbildung zum Barmherzigen Bruder und ihre Forderungen

 

            Der Ausbildungsprozeß beinhaltet eine Reihe von Forderungen. Den Kandidaten muß die Möglichkeit gegeben werden, unser Ordensleben und die Gegebenheiten, in denen wir tätig sind, kennenzulernen, damit sie entscheiden können, ob unser Orden der Ort ist, an den Gott sie ruft. Der Orden muß durch die Ausbilder und die Kommunitäten diesen Ausbildungsprozeß unterstützen.

 

            Im Orden besteht zur Zeit der Kontrast, daß wir in einigen Teilen der Welt zahlreiche neue Berufe und mithin Auszubildende haben (Afrika, Südamerika und Asien), während in anderen die Kandidaten immer seltener werden.

 

            Um den neuen Kandidaten eine angemessene Ausbildung angedeihen zu lassen, hat man im Orden interprovinzielle Ausbildungszentren und Ausbildungsgemeinschaften gebildet, durch die die verfügbaren materiellen und personellen Ressourcen besser genutzt werden. Zugleich bieten solche Zentren und Gemeinschaften den Auszubildenden einen reicheren Erfahrungshorizont, auch wenn darüber nicht die Gefahr vergessen werden darf, daß es bei den Betroffenen zu einem Identitätsverlust im Hinblick auf die Herkunftsprovinz kommen kann.

 

            Der heutige Erfahrungsstand erlaubt uns zu sagen, daß die positiven Aspekte dieser Ausbildungszentren zahlreicher sind als die negativen. In letzter Instanz geht es hier um die Zukunftsfähigkeit des Ordens, mit anderen Worten um die Sorge, unser Charisma in der Zeit lebendig zu erhalten. Wie ich bereits bei anderen Gelegenheiten gesagt habe, ist es schlimm, wenn man keine neuen Berufe hat, aber noch schlimmer, wenn man sie hat und nicht imstande ist, sie angemessen auszubilden. Wir glauben, daß unseren Kandidaten in der derzeitigen Form eine angemessene Ausbildung gegeben wird.

 

            In der Folge möchte ich einige Aspekte des Ausbildungsprozesses bei uns Barmherzigen Brüdern beleuchten.

 

6.1.            Jugendpastoral und Berufepastoral

 

            In zahlreichen Ländern in der westlichen Welt, in denen der Orden auf eine lange Tradition zurückblicken kann, sind heute enorme Anstrengungen notwendig, um junge Menschen für unser Leben als Barmherzige Brüder zu interessieren und zu gewinnen. Wir sollten uns von der Tatsache, daß wir nur selten die erhofften Ergebnisse erzielen, nicht entmutigen lassen. Wir wissen, daß das Weiterleben oder Nichtweiterleben des Ordens in den Händen Gottes und des heiligen Johannes von Gott liegt. Das befreit uns jedoch nicht von der Verantwortung,  unseren Teil dazu beizusteuern.

 

            Wir dürfen nichts unversucht lassen, um mit jungen und nicht mehr jungen Menschen in Kontakt zu kommen und ihnen die Gotterfahrung zu vermitteln, die sich unserem Ordensgründer und uns als seinen Nachfolgern im Dienst am armen und kranken Menschen erschlossen hat.

 

            Wir dürfen nicht untätig bleiben. In vielen Orten müssen heute die Berufe buchstäblich “geweckt” werden. Dazu ist ein ständiger Kontakt zur heutigen Welt notwendig im Wissen darum, daß zwischen der Sprache, die wir sprechen, und der Sprache zahlreicher Menschen in der Gesellschaft eine große Kluft besteht.

 

            Natürlich gibt es auch heute genauso wie früher viele Menschen guten Willens; doch häufig fühlen sich diese dazu berufen, ihr Christsein in anderen Ausdrucksformen zu leben.

            Ein Schwerpunkt von Vita Consecrata kann darin gesehen werden, daß es das Ordensleben als Wert neu bestätigt hat und als eine christliche Lebensform hervorgehoben hat, die sich von den anderen Lebensformen, die es in der Kirche gibt, unterscheidet. Als solche muß sie in ihrem Potential anerkannt und von den Betroffenen mit Begeisterung gelebt werden. Mit derselben Einstellung sollen auch wir das Charisma des heiligen Johannes von Gott an neue Personen weitergeben.

 

            Bei meinen Überlegungen nehmen die Brüder, die sich in den Provinzen der Jugend- und Berufepastoral widmen, immer großen Raum ein. Heute bei der Erkennung des Rufes des Herrn vermittelnd einzugreifen, ist wahrhaft keine leichte Aufgabe. Viele Kandidaten sind sich nicht klar, daß die Antwort auf den Ruf des Herrn eine Reihe von Forderungen mit sich bringt, die sie vielfach nicht imstande sind zu erfüllen.

 

            Die Arbeit der Brüder, die sich, indem sie geeignetes Werbematerial gestalten und den Kontakt zu potentiellen Interessenten suchen und pflegen, der Jugend- und Berufepastoral widmen, muß stets vom persönlichen Gebet der Einzelnen und der Kommunitäten mitgetragen werden. Weiter muß sie dadurch unterstützt werden, daß man die Kandidaten, die unser Leben und unser Werk aus nächster Nähe kennenlernen wollen, offen und herzlich aufnimmt und an allen Initiativen mitarbeitet, die zur Weitergabe unseres Charismas organisiert werden.

 

            Die Indifferenz und Kritik, die sich bei manchen einstellen, wenn die erhofften Früchte ausbleiben, sind nicht der richtige Weg. Gott, der Schöpfer der Erde, liebt seine Geschöpfe, trotz der Distanziertheit unserer Kultur, nach wie vor. In ihr haben wir die Aufgabe, unser Licht zu bringen.

 

            Der Rückgang der Ordensberufe in der westlichen Gesellschaft ist eine Tatsache. Heute entscheiden sich viel weniger Menschen zum Ordensleben in diesen Ländern, weswegen die charismatische Präsenz der Brüder im Apostolat quantitativ empfindlich geschrumpft ist. Wir sollten Gott dankbar sein, daß wir heute so viele gute Mitarbeiter haben, die sich mit den Idealen unseres Ordensgründers identifizieren und unserem Sendungsauftrag die apostolische Dynamik und Kreativität geben, die er braucht. Trotzdem müssen wir uns weiter darum bemühen, daß der Herr Menschen zu Barmherzigen Brüdern beruft.

 

            Dort wo Menschen mit einer starken charismatischen Ausstrahlung wirken, die ihre Berufung mit Freude leben und zeigen, daß es sich lohnt, so zu leben wie sie, bleiben die Früchte nicht aus, und sind die Hindernisse auch noch so groß. P. Benedikt Menni ging alleine nach Spanien, um den Orden aufzubauen, und hat in siebzehn Jahren über hundert Brüder um sich gesammelt.

 

            Ich habe bisher auf den großen Stellenwert der Jugend- und Berufepastoral vor allem in den Ländern hingewiesen, in denen neue Berufe selten sind. Doch auch in den anderen sollte diesem Tätigkeitsbereich große Aufmerksamkeit geschenkt werden.

 

            Beim ersten Kontakt mit den Kandidaten ist sehr wichtig, daß man mit den Daten, die uns vorliegen, die Solidität der Berufung prüft, einmal um den Betroffenen und uns selbst einen unnützen Zeitverlust zu ersparen und zum anderen, um nicht grundlose Erwartungen zu wecken, die sowohl bei den Kandidaten als auch bei uns, wenn es nicht klappt, unnütze Frustrationen bewirken.

 

 

 

 

6.2.      Die Wichtigkeit der Grundausbildung

 

            Die Grundausbildung ist die Zeit, in der sich ein Kandidat in unseren Orden integriert. Dieser Abschnitt dauert bis zur feierlichen Profeß des neuen Bruders.

 

            Ich habe bereits darauf hingewiesen, wie wichtig es ist, daß die Solidität der Berufung der Kandidaten schon vor der Zulassung zum Postulat einer eingehenden Prüfung unterzogen wird. Diese Prüfung muß in der Grundausbildung auf der Linie einer stufenweise fortschreitenden Strategie vertieft und intensiviert werden. Dabei dürfen eventuelle Defizite, die man im Postulat erkennt, nicht ins Noviziat verlagert werden. Dasselbe gilt für den Wechsel vom Noviziat ins Scholastikat, wobei nicht bestritten werden soll, daß Fortschritte immer möglich sind.

 

            Diese Zeit der Berufsfindung verlangt, daß man den Dingen realistisch ins Auge zu blicken lernt, offen für den Heiligen Geist ist, Meinungsverschiedenheiten mit den Magistern auszutragen lernt, Erfahrungen in der Praxis des Apostolates sammelt und gemeinsam zu verstehen sucht, ob der Orden der Ort ist, an dem der Betreffende seine Berufung verwirklichen soll:”Gott weiß, was das Beste und das Wahre ist. Gott ist der Wissende und der Helfer. Er gebe uns allen Hilfe und Rat”, lesen wir im Brief des heiligen Johannes von Gott an Luis Bautista (Nrn. 6 und 8).

 

            Nach der ersten Verpflichtung durch die zeitliche Profeß soll der Kandidat im Scholastikat praktische Erfahrungen im Apostolat und im Gemeinschaftsleben sammeln, die ihn auf den Einsatz als Barmherziger Bruder und auf die endgültige Bindung an den Orden vorbereiten. Es ist schwer, hier die einzelnen Etappen klar voneinander zu scheiden. Meine Absicht war es, die wichtigsten Punkte jeder Etappe hervorzuheben.

 

            In der Theorie hört sich das alles gut und schön an, aber wir alle wissen, wieviel Mühe dieser Prozeß in der Praxis kostet. Gerade deswegen müssen wir ihn ständig mit unserem Gebet begleiten.

 

            Jede Berufung ist ein Geheimnis: geheimnisvoll das Rufen Gottes, geheimnisvoll das Hören dieses Rufes, geheimnisvoll die Fähigkeit, sich in einer Ordensgemeinschaft zu beheimaten. Dort wo heute wenig neue Berufe nachwachsen, wird von den Betroffenen verlangt, daß sie die Fähigkeit haben, sich in Gruppen einzugliedern, die aus meist älteren Brüdern gebildet sind. Dort wo es viele Berufe gibt, wird von ihnen verlangt, daß sie baldmöglichst Verantwortung übernehmen, oft ohne daß ihnen die Zeit gegeben wird, schrittweise in den Orden hineinzuwachsen. Trotzdem dürfen wir nicht den Mut verlieren. Der Herr war stets an unserer Seite und hat uns ganz besonders in den Situationen geholfen, in denen wir uns überfordert und ohnmächtig gefühlt haben.

 

            Das Scholastikat ist gewöhnlich die kritischste Zeit im Ausbildungsprozeß. In dieser Zeit wird von den Betroffenen verlangt, daß sie die Pflichten des Glaubenslebens mit den Forderungen des Gemeinschaftslebens, den praktischen Erfahrungen im Apostolat und der Fachausbildung in Einklang bringen. Der Scholastiker hat die Pflicht und das Recht, mit mehr Freiheit und Eigenständigkeit sein Leben in die Hand zu nehmen. Bei manchen löst der Umstand, daß man in dieser Situation oft nicht in der Lage ist, allen Ansprüchen gerecht zu werden, Unbehagen aus. Sie fühlen sich unverstanden und kritisiert.

 

            Sowohl von den Ausbildern als auch von den Auszubildenden ist deswegen in dieser Zeit ein großes Maß gesunden Menschenverstandes gefordert. Es ist klar, daß bei der Fülle der Forderungen, die eine oder andere zwangsläufig zu kurz kommt. Das bedeutet nicht, daß die eine der anderen geopfert werden darf und schon gar nicht, daß man sich an ein Leben in Halbheiten gewöhnt. Ich glaube, daß man in dem Maß,  in dem man zielbewußt an sich arbeitet, seiner Bestimmung treu bleibt und die Antwort zu geben fähig ist, die der Herr sich von uns erwartet. Gott verlangt von uns nie etwas, das wir nicht zu leisten imstande sind.

 

            Während des Scholastikates eignet man sich die Fachausbildung für den künftigen Arbeitseinsatz an. Ich will keinen abschrecken, doch sollte man sich bewußt sein - und hier wende ich mich im besonderen an die Jüngeren unter uns - daß unser Leben in Abweichung von der Berufsausbildung, die wir gewählt haben, einen ganz anderen Weg nehmen kann.

 

            An dieser Stelle möchte ich etwas wiederholen, das ich in diesen zwei Jahren immer wieder gesagt habe: Wir sind dazu berufen, den Gedanken der Hospitalität im Sinne des heiligen Johannes von Gott fortzuschreiben und am Leben zu erhalten. Die Schulen, die wir machen, sind eine Basis, eine Brücke, eine Startrampe, die uns dazu befähigt, die Verantwortung zu übernehmen, mit der wir später betraut werden.

 

            Wir haben uns auf die Durchführung eines Auftrages vorzubereiten, der ständig aktualisiert werden muß. Andernfalls riskieren wir, in eine sterile Statik zu verfallen und langsam abzusterben.

 

            Den Ausbildern obliegt die Aufgabe, die Ansprüche, die an die Auszubildenden in den verschiedenen Etappen gestellt werden, harmonisch miteinander zu integrieren. Dazu bedürfen sie selbst einer ständigen Weiterbildung, die im Rahmen des Möglichen auf interprovinzieller Ebene angeboten werden sollte. Nur so können sie den Erwartungen der Auszubildenden und der Aufgabe, die ihnen vom Orden anvertraut wurde, gerecht werden.

 

6.3.      Die ständige Weiterbildung

 

            Die Erneuerung des Ordenslebens hängt weitgehend von der Ausbildung der Ordensmitglieder ab, heißt es in Perfectae Caritatis (Nr. 18), und meinte damit eine Ausbildung, die alle Ebenen und Lebensbereiche des Ordensmannes/der Ordensfrau umfassen und nicht nur an der Theorie, sondern an der Praxis orientiert sein sollte.

 

            In diesem Sinn wurden zahlreiche Kurse veranstaltet und angeboten. Zur Entfaltung unserer menschlichen, charismatischen und spirituellen Fähigkeiten bedürfen wir einer konstanten Fortbildung. Wir müssen uns individuell und gemeinschaftlich fortbilden und dabei alle bestehenden Strukturen in Anspruch nehmen: der Diözese, des Staates und des Ordens.

 

            Das letzte Generalkapitel hat uns eingeladen, gemeinsame Formen der Weiterbildung mit unseren Mitarbeitern vorzusehen. Wir werden den Gedanken der Neuen Hospitalität nicht wirksam in die Tat umsetzen können, wenn wir der Bildung nicht den ihr gebührenden Stellenwert zuerkennen. In Vita Consecrata lesen wir, daß die ständige Weiterbildung eine für die Weihe an Gott wesentliche Forderung ist (Nr. 69).

 

            Es ist nicht meine Absicht, hier ein Thema wieder auszugraben, das niemanden interessiert. Gerade weil es nach meiner Auffassung so wichtig ist, erlaube ich mir, mit Nachdruck darauf hinzuweisen. Die im Konzilsdekret Perfectae Caritatis aufgestellte Forderung, die in Vita Consecrata um ein vielfaches verstärkt wurde, glaube ich, geben mir das volle Recht dazu.

 

            Die ständige Weiterbildung ist ein unersetzbares Instrument, um uns menschlich weiterzuentwickeln, unseren Sendungsauftrag zu aktualisieren, vor allem aber um unsere Identität als geweihte Personen zu vertiefen und unser spirituelles Leben an den Erfahrungswerten zu orientieren,  die das Leben unserer Vorgänger und im besonderen des heiligen Johannes von Gott bestimmt haben.

 

            Wir können viel aus der Geschichte lernen, doch daneben müssen wir uns die aktuellen Kenntnisse unserer Zeit aneignen, damit wir imstande sind, einen qualifizierten Beitrag zur Hospitalität zu leisten, eine wirksame Pastoral anzubieten, die ethischen Herausforderungen der Medizin zu bewältigen, die soziale Dimension im Miteinander mit unseren Mitarbeitern gemäß der Soziallehre der Kirche zu integrieren und unsere Kultur der Hospitalität einzubringen. Bei diesem Bemühen können wir Brüder und unsere Mitarbeiter eine große wechselseitige Bereicherung durch den Austausch unserer Werte und Erfahrungen erleben.

 

            Der kanonische Ausbildungsprozeß eines Barmherzigen Bruders findet seinen Abschluß mit der feierlichen Profeß; doch wir alle wissen, daß er fortgeführt werden muß, wenn wir den Forderungen unserer Zeit gerecht werden wollen. Im Rahmen einer sorgsamen Weiterbildung kann alles, was uns im Leben begegnet, auf Gott hingeordnet und zur besseren Integration und Harmonisierung der eigenen Person verwertet werden.

 

            Eine solche Weiterbildung wird uns helfen, in einem gelösten und freundschaftlichen Klima Gott und die Menschen zu suchen und unsere Berufung als eine beglückende und erfüllende Gabe zu erleben. Unabhängig von den Schwierigkeiten, denen er auf seinem Weg begegnen mag, hängt das Glück des Menschen maßgeblich von seiner Lebenseinstellung ab. Gerade an dieser erlaubt uns die ständige Weiterbildung, positiv zu arbeiten.

 

6.4.      Die praktische Ausbildung zur Umsetzung unseres Charismas

 

            Im Bereich der Fachschulen und Fachausbildung kann unser Orden auf eine lange Tradition zurückblicken. Schon sehr früh zeichneten sich Brüder als angesehene Chirurgen, Pharmazisten, Allgemeinärzte usw. aus und förderten durch die Einrichtung eigener Schulen die Vermittlung der Erkenntnisse, die sie in Medizin, Krankenpflege und Pharmazie erworben hatten. Der Ruf einiger dieser Brüder drang weit über die Landesgrenzen hinaus.

 

            Heute ist der Orden bemüht, den Herausforderungen der Neuen Hospitalität auch dadurch gerecht zu werden, daß er eine Reihe verschiedener Fachschulen leitet bzw. Fachausbildungen anbietet. Dieses Angebot umfaßt Facharztausbildungen, Krankenpflegeschulen, ethische und pastorale Fortbildungskurse, Seminare zu ordensspezifischen Themen u.v.a.

 

            Eine ganz besonders wichtige Komponente dieses Angebots stellen zweifelsohne die Krankenpflegeschulen und Heilerziehungsschulen dar, die der Orden weltweit leitet. Sie sind eine unschätzbare Hilfe zur Ausbildung der Brüder und einer Vielzahl künftiger Mitarbeiter, denen in unseren Schulen nicht nur die notwendigen Fachkenntnisse, sondern auch die ideellen Werte unseres Ordensgründers vermittelt werden.

 

7.         Unsere Sendung ist, das Werk des heiligen Johannes von Gott fortzuführen

 

            Wir sind dazu berufen worden, das Werk des heiligen Johannes von Gott fortzuführen. Vor uns haben viele Brüder Großes geleistet, damit dieses Werk sich bis zu unseren Tagen herauf entwickeln konnte. Unser spirituelles Erbe wurde von ihnen mit vielem Guten und Schönen angereichert. Von vielen haben wir Kenntnis; doch noch mehr sind in der Anonymität geblieben. Gemeinsam unterstützen sie heute das Werk des Ordens vom Himmel herab, wo sie zusammen mit dem heiligen Johannes von Gott, den vielen Menschen, die bei uns betreut wurden, und unseren verstorbenen Mitarbeitern und Freunden für uns eintreten.

 

            Die Tatsache, Erben eines so wichtigen Werkes zu sein, läßt unseren Blick spontan in die Geschichte zurückwandern. Doch unser Blick muß sich vom Heute nach vorn richten. Die Frage, auf die wir eine Antwort geben müssen, lautet:”Was würde der heilige Johannes von Gott heute tun?” bzw. “Wie können wir unseren Orden für die Zukunft rüsten?” Wir stellen diese Frage  hier nicht zum ersten Mal, sondern haben sie uns bereits oft gestellt. Eine hundertprozentig sichere Antwort darauf wird sich kaum finden. Aber auch unsere Vorgänger waren in derselben Lage, was uns ermuntern sollte,  mit Gottvertrauen in die Zukunft zu blicken.

 

7.1.      Unsere ganze Person soll das Lebensideal des heiligen Johannes von Gott zum Ausdruck bringen

 

            Je weiter wir auf unserem Weg als Barmherzige Brüder fortschreiten, desto klarer erkennen wir das Lebensideal des heiligen Johannes von Gott. Unter uns gibt es einige Brüder mit einer ganz besonders starken charismatischen Ausstrahlung. Ohne den persönlichen Wert eines jeden Einzelnen hier abwerten zu wollen, glaube ich, daß wir uns der Führung dieser Brüder in Gemeinschaft mit der Kirche und den anderen Brüdern anvertrauen sollten. Weiter sollen uns die Kommunitäten, unsere Versammlungen auf Haus-, Provinz- und Gesamtordensebene, je nach ihrer Zuständigkeit, Wegweisung und Erhellung bei der Umsetzung des Lebensideals des heiligen Johannes von Gott sein.

 

            Wir sollten unentwegt bemüht sein, unser Sein und Tun am Leben des heiligen Johannes von Gott auszurichten: seine Hinwendung zu Gott, seine Christusnachfolge, seine Bereitschaft, den Weisungen seines Seelenführers Johannes von Avila zu folgen, seine Askese, seine Urteilskriterien, sein Umgang mit den anderen, seine Hingabe an die Armen und Kranken, sein Hospital, seine Verkündigung des Gottesreiches, seine Vorzugsoption, seine Identifikation mit der Kirche, seine Weihe, sein Beten, seine Urgemeinde... sollen uns dabei Halt und Orientierung sein.

 

            In all diesen Belangen sollten wir uns fragen: Handeln wir so, wie unser Heiliger gehandelt hätte? Bei verschiedenen Anlässen habe ich den Geist, von dem unsere Häuser geprägt sein sollten, mit folgender Umschreibung auf den Punkt gebracht:”Wir müssen so handeln, daß der heilige Johannes von Gott, wenn er in unsere Häuser käme, sich sofort zu Hause fühlen würde, weil er bei uns sich selbst und sein Werk wiederfinden muß.”

 

7.2.      Wir sollen mit unserer Person das Lebensideal des heiligen Johannes von Gott durch unsere Mitarbeit am Ordensauftrag zum Ausdruck bringen

 

            Im dritten Teil des Kapitelsdokumentes 1994 wurden die Initiativen und Neuorientiereungen rekapituliert, mit denen der Orden auf die Forderung des II. Vatikanums nach Erneuerung geantwortet hat. Im fünften Teil wurde auf dem Hintergrund dieser Bestandsaufnahme der Weg des Ordens in die Zukunft skizziert. Ich habe nicht die Absicht, das dort Gesagte zu wiederholen. Doch einige Punkte verdienen es, hier noch einmal verdeutlicht zu werden:

 

·          Bei jedem von uns muß der Sinn für den Ordensauftrag wach bleiben. Dabei müssen wir akzeptieren, daß wir mit fortschreitendem Alter nicht mehr so einsatzfähig sind wie früher, daß das gesellschaftliche Umfeld, in dem wir wirken, uns nicht immer wohlwollend gesinnt ist, und uns klar sein, daß heute zur Ausübung der Hospitalität eine entsprechende Fachausbildung notwendig ist. Gemeinsam mit dem Charisma, hat uns der Herr mit drei, zwei oder einem Talent beschenkt, die wir ständig entfalten müssen, wenn wir den Erwartungen, die Gott an uns stellt, treu bleiben wollen. Wir können die Hospitalität mit unserer Person in mannigfaltigen Formen zum Ausdruck bringen. Nichts kann und darf uns daran hindern.

 

·            Wiederholen wir noch einmal: Gemäß der Forderung des Heiligen Vaters nach einer neuen Evangelisierung, haben wir als Leitgedanken für unsere Zukunft die neue Hospitalität gewählt, mit der wir jedoch nichts anderes meinen als die Hospitalität, die von Johannes von Gott und unseren Vorgängern gelebt wurde. Wir wollen sie mit derselben Entschiedenheit, aber mit neuen Methoden leben. Mag sein, daß es uns heute an Entschiedenheit fehlt. Doch wir haben das Vorbild vieler Mitbrüder, die mit derselben Hingabe die Hospitalität leben wie der heilige Johannes von Gott. Genau dazu will die neue Hospitalität Einladung sein.

 

·          Die neue Hospitalität verlangt, daß wir uns in radikaler Weise für den leidenden, kranken, an den Rand gedrängten und armen Menschen entscheiden. Diese Option war das entscheidende Lebensmotiv des heiligen Johannes von Gott und der apostolischen Bewegung, die er in Granada gründete und die bald über die Grenzen dieser Stadt hinaus wirksam wurde. Unsere Aufgabe ist, daß wir uns zu heilender und bergender Hospitalität machen, zu einer Hospitalität, die zu den Menschen von Gott spricht und zu Gott von den Menschen, die immer für den Anderen offen ist, auch wenn sie ihm nicht die Lösung anbieten kann, die er sich erhofft.

 

·          Die neue Hospitalität ist unlösbar mit dem Auftrag zur Evangelisierung verbunden. Wir haben an uns das Heil Christi erfahren. Die Freude darüber drängt uns unwiderstehlich, diese Erfahrung unseren Mitmenschen mitzuteilen. Wie? Zuallererst, indem wir selbst dieses unser Heilwerden in Christus sichtbar leben und zweitens, indem wir es an unsere Mitmenschen weiter vermitteln.

 

            Krankheit, Einsamkeit und Armut werfen eine Vielzahl von Fragen im Hinblick auf den Sinn des Lebens und auf die heilende Gegenwart Gottes auf. Je nach den Gegebenheiten, müssen wir auf diese Fragen mit unserer stillen Gegenwart, unserer menschlichen Nähe, mit Achtung, mit dem Zeugnis unseres Lebens oder mit dem Wort Gottes antworten.

 

            Manchen mag ein solches Verhalten unter apostolischem Gesichtspunkt etwas dünn vorkommen. War Johannes von Gott hier nicht viel effektiver? Ich gebe zu: Ja. Doch wir bewegen uns heute in einer anderen theologischen und spirituellen Kultur, die den Akzent auf die Barmherzigkeit Gottes setzt und Gott in einem viel innigeren Verhältnis zum Menschen sieht. Diejenigen unter Euch, die direkt in der Pastoral tätig sind, wissen besser als ich, nach welchen Prinzipien man heute hier vorgehen muß, und haben meine volle Zustimmung.

 

·          Die neue Hospitalität verlangt, daß wir je nach der Bedürfnislage der Menschen, die wir betreuen, unsere Werke in differenzierter Weise ausgestalten. In den vergangenen Jahren haben wir uns eingehend mit der Frage nach den neuen Notsituationen befaßt und dementsprechende Orientierungen gefaßt, denen wir treubleiben sollten. Von Zeit zu Zeit werden Stimmen laut, die gewisse Tätigkeitsformen in Frage stellen. Ich glaube, daß in jeder Struktur unser Handlungsspielraum gewissen Bedingungen unterliegt. Dasselbe gilt von unseren Beziehungen zu öffentlichen und privaten Institutionen.

 

            Wir müssen diesen Bedingungen Rechnung tragen und wie der heilige Johannes von Gott die Fähigkeit beweisen, ihren Einfluß so weit als möglich zu reduzieren, damit der Dienst am Menschen, zu dem wir berufen sind, gemäß den Werten durchgeführt wird, auf die wir uns verpflichtet haben:”Jesus Christus möge mir die Zeit und die Gnade gewähren, daß ich ein Hospital habe, in dem ich die armen Menschen, die verlassen und der Vernunft beraubt sind, sammeln kann, um ihnen zu dienen, wie ich es wünsche!” [9]

 

·          Die neue Hospitalität verlangt, daß wir unseren Dienst in der Hospitalität heute immer mehr dadurch erfüllen, daß wir uns zu Animatoren der Leitidee machen, die Johannes von Gott beseelt hat. Die Koordinaten dieser Leitidee sind in dem bisher Gesagten ausführlich dargestellt worden. Ebenso ist uns klar, daß wir diese Leitidee nur mit der Hilfe unserer Mitarbeiter wirksam in die Praxis umsetzen können.

 

            Ganz besonders gefordert ist in diesem Zusammenhang eine Neukonzeption der Rolle der Kommunitäten im Hinblick auf den apostolischen Auftrag der Werke. Auch mit dieser Frage beschäftigen wir uns seit langem. Ansätze dazu finden sich in unseren Generalstatuten (vgl. Art. 162 und 164), in zahlreichen Dokumenten sowohl der Provinz- als auch der Generalkapitel, im Dokument “Die Hospitalität der Barmherzigen Brüder - Aufbruch ins Jahr 2000” (IV. Kapitel), in der Verlautbarung Das brüderliche Leben in Gemeinschaft (Nrn. 67 und 70) und nicht zuletzt im jüngst erschienenen Schreiben Vita Consecrata von Papst Johannes Paul II.

 

            Es stimmt, daß wir vieles von dem, was wir in diesem Bereich vorgenommen haben, nicht erreicht haben. Doch es stimmt auch, daß wir uns mit viel gutem Willen dieser Aufgabe gestellt haben und nie aufgehört haben, nach neuen Ansätzen und Lösungen zu suchen.

 

·          Die neue Hospitalität fordert, daß wir bei unserem Tun von einer Spiritualität der Arbeit geleitet werden, die auf den Prinzipien der Soziallehre der Kirche aufbaut und die Person als zentralen Wert sieht, sprich der nichts fremder als die Anhäufung von Kapital ist.

 

            Wir sollen die uns zur Verfügung stehenden Mittel zwar ordnungsgemäß einsetzen und zweckgerecht verteilen, dabei jedoch nie die Stimme unseres sozialen Gewissens überhören.

 

            In diesem Bereich müssen wir sehr klare Vorstellungen haben. Wir können nicht von einer Bewegung unserer Laienmitarbeiter sprechen, wenn wir die sozialen Prinzipien nicht klar vor Augen haben und uns für ihre praktische Umsetzung einsetzen. Unsere Aufgabe ist es, die Rechte der Mitarbeiter mit den Rechten der Betreuten in Einklang zu bringen. Ich bin überzeugt, daß wir die Rechte aller beider respektieren können, weil sie, für sich genommen, nicht im Widerspruch zueinander stehen.

 

            Zahlreiche Betriebe sind heute bemüht, die Fähigkeiten ihrer Mitarbeiter zu fördern und die Zufriedenheit am Arbeitsplatz zu erhöhen, jedoch nur, um die Arbeitsleistung zu steigern. Die Interessengemeinschaft, die uns mit unseren Mitarbeitern verbindet, ist viel stärker. Denn die Betreuung der Patienten, alten und behinderten Menschen ist ein idealistischer Dienst, dessen Wert nie genug betont werden kann.

 

·          Die neue Hospitalität verlangt, daß wir auf neue Bedürfnisse und Notsituationen eingehen. Hier kann nur das wiederholt werden, was bereits oft gesagt worden ist. Der Mensch leidet heute in einer neuen Form an den Krankheiten von immer und muß mit den Bedürfnissen angenommen werden, die durch die heutigen Gegebenheiten entstanden sind. Dazu kommt, daß heute neue Krankheiten aufgetreten sind, gegen die die Medizin machtlos ist oder nur teilweise etwas tun kann, weswegen die Begleitung dieser Patienten ganz besonders wichtig ist.

 

            Wenn wir wirklich an vorderster Front stehen wollen wie der heilige Johannes von Gott, muß uns das Schicksal dieser Menschen ganz besonders am Herzen liegen. Wir dürfen die Augen vor den realen Verhältnissen unserer Gesellschaft nicht verschließen, in der immer mehr Menschen an den Rand gedrängt werden, das Leben zwar verlängert, aber die Lebensqualität der alten Menschen wenig beachtet wird. Andernfalls würden wir unserem Daseinsgrund untreu.

 

·            Schließlich verlangt die neue Hospitalität, daß wir unsere Tätigkeit in den Entwicklungsländern fortsetzen und dort aus unseren Einrichtungen mit Basismedizin- und Gesundheitserziehungsprogrammen zur Verbesserung der Gesundheit der Bevölkerung beitragen. Wir verfolgen mit großer Aufmerksamkeit die Entwicklung der zahlreichen jungen Brüder, die sich dem Orden in diesen Ländern angeschlossen haben. Wir verfolgen mit großer Aufmerksamkeit den Einsatz unserer Brüder, die als Missionare in diesen Ländern, oft unter Lebensgefahr, für die Gesundheit und menschliche Förderung der Bevölkerung tätig sind.

 

            Ich möchte an dieser Stelle allen Brüdern, Schwestern und Mitarbeitern, die in jüngster Zeit, trotz äußerst gefährlicher äußerer Umstände, beschlossen haben, an der Seite der Bevölkerung in diesen Krisengebieten zu bleiben, meine und die Anerkennung des ganzen Ordens aussprechen.

 

            Da die Kräfte der Provinzen, von denen der Orden in diesen Ländern aufgebaut wurde, zurückgehen, die einheimischen Berufe jedoch, Gott sei Dank, stetig steigen, müssen die Voraussetzungen dafür geschaffen werden, daß den einheimischen Brüdern schrittweise die Leitung der bestehenden Werke übergeben werden kann. Das will nicht heißen, daß damit die bisher von den Mutterprovinzen geleistete Missionstätigkeit endet; sie soll, ganz im Gegenteil, gemeinsam fortgeführt werden.

 

8.            Zukunft gestalten gemeinsam mit unseren Mitarbeitern

 

            Unser Apostolat ist seit jeher in maßgebender Weise von anderen Menschen unterstützt und mitgetragen worden. Johannes von Gott selbst ist dafür das beste Beispiel: Zahlreiche Wohltäter, Gönner, Freunde und Mitarbeiter unterstützten ihn. Ich glaube nicht, daß es notwendig ist, hier im einzelnen die großen Leistungen zu erwähnen, die von Mitarbeitern seit den ersten Anfängen unseres Ordens in seinem Gesamtwerk vollbracht wurden.

 

            In den mehr als vierhundert Jahren seines Wirkens waren die Mitarbeiter eine ständige Komponente des Ordens. Durch die industrielle Revolution wurde den Arbeitern eine eigene Arbeitsverfassung zuerkannt und ihre Rechte in einer bis dahin unbekannten Form festgelegt.

 

            Heute erleben wir in zahlreichen Regionen, in denen der Orden auf eine lange Tradition zurückschauen kann, einen empfindlichen Rückgang der Berufe. Zugleich erleben wir ein neues  Rollenverständnis bei unseren Mitarbeitern und eine Blüte im Bereich der ehrenamtlichen Mitarbeit und Förderung.

 

            Durch den Fortschritt von Technik und Wissenschaft haben unsere Werke ein neues Gesicht erhalten. Bei der Umstellung waren wir bemüht, die Ziele des Ordens mit dem in den verschiedenen Ländern geltenden Arbeitsrecht in Einklang zu bringen. Wir haben unsere Häuser in der Form von Betrieben organisiert, wobei man mancherorts ohne ein klares Konzept vorgegangen ist.

 

            Diese fehlende Klarheit hat die Öffnung zu den Mitarbeitern erschwert und bei manchen Brüdern Widerstände hervorgerufen. Einzelne Häuser und teilweise auch ganze Provinzen haben darunter empfindlich gelitten. Mein Eindruck ist, daß wir heute in diesem Zusammenhang ein entkrampfteres Klima und klarere Vorstellungen haben.

           

 

 

 

8.1.            Gemeinsam dem Leben dienen - Die Barmherzigen Brüder und ihre Mitarbeiter

 

            So lautete der Titel eines Dokumentes, in dem sich der Orden über sein Verhältnis zu den Mitarbeitern befragte. Hier geht es mir darum, die Konsequenzen aufzuzeigen, die sich für uns Brüder aus dem partnerschaftlichen Einschluß der Mitarbeiter in den Ordensauftrag ergeben. Wir haben unser Eigenrecht weiter entwickelt, um wirksamer tätig sein zu können; wir haben Leitungs- bzw. Verwaltungsstatuten auf Haus- und Provinzebene zur Klärung und Abgrenzung der jeweiligen Kompetenzen bei der partnerschaftlichen Erfüllung des Ordensauftrages eingeführt; dabei galt unsere Aufmerksamkeit zwar vor allem unseren Mitarbeitern, doch zugleich hatten wir auch ein waches Auge für die ehrenamtlichen Helfer. Diese Entwicklung war für manche - für einige mehr, für andere weniger - schwer zu verstehen. Immer noch bestehen hierzu verschiedene Auffassungen, die schwer miteinander vereinbar sind. Dazu kommt, daß gewisse Probleme, die im Alltag auftreten, den Mißtrauischen unter uns scheinbar Recht geben.

 

            Johannes von Gott hatte nicht mit einer Organisation der Arbeit wie der unseren zu tun. Doch eine Ahnung sagt mir, daß er sie akzeptiert und mit allen ihren Forderungen übernommen hätte, unabhängig von den Schwierigkeiten, die sich daraus ergeben. Ich glaube nicht, daß er davor zurückgescheut wäre. Vielmehr bin ich überzeugt, daß er sich dieser Herausforderung mit der ihn kennzeichnenden Grundhaltung, sprich mit Verantwortungsbewußtsein, Dialogbereitschaft, Friedensliebe und Verständnis gestellt hätte. Ich sehe in dem großen Vertrauen, das unser Heiliger sowohl zu Gott als auch zu den Menschen hatte, einen seiner Hauptzüge.

 

            Die Selbstbeherrschung und das große Gott- und Selbstvertrauen, das er bei der Reise mit den Prostituierten nach Toldedo bewies, ist nach meinem Dafürhalten der Schlüssel, mit dem er an jedes Problem heranging. Ich glaube, daß er sein Hospital in den heutigen Gegebenheiten mit derselben Grundhaltung leiten würde.

 

            Vielleicht bin ich in diesem Punkt etwas naiv, obwohl ich sehr wohl weiß, wie schwierig in manchen unserer Häuser das Verhältnis zu den Gewerkschaften ist und wie schwer sich manche Brüder tun, betriebswissenschaftliche Konzepte auf unsere Werke zu übertragen. Doch worauf es letztendlich ankommt, ist, daß wir Brüder oder die Personen, die wir zu leitenden Mitarbeitern bestellt haben, bei allem, was wir tun, mit einer an unserem Heiligen orientierten Grundhaltung auftreten. Die Haltungen, die ich in den vorausgehenden Seiten beschrieben habe, müssen wir immer haben, ganz besonders aber müssen wir sie in den schwierigsten Konfliktsituationen bewahren. Um unser Wachsen in diesen Haltungen, glaube, sollten wir uns ganz besonders kümmern, damit man in unseren Häusern den Geist des heiligen Johannes von Gott konkret spürt. Die partnerschaftliche Erfüllung des Ordensauftrages mit unseren Mitarbeitern verlangt, daß wir zu denen, denen wir Verantwortung übertragen, Vertrauen haben, sie zur Rechenschaft ziehen, ihnen Aufgaben delegieren, in Teamarbeit mit ihnen zusammenarbeiten. Und dort, wo kritische Situationen auftreten, müssen wir uns immer zuallererst fragen, wie hätte der heilige Johannes von Gott gehandelt, und dann dementsprechend handeln.

 

8.2.            Gemeinsam dem Leben dienen - Die Barmherzigen Brüder und ihre Gönner

 

            Das Werk unseres Ordens ist seit jeher von Gönnern unterstützt und gefördert worden. Lange Zeit spielten sie eine entscheidende Rolle bei der Erhaltung unserer Werke, ja wurden diese zu einem Großteil fast ausschließlich mit ihrer Hilfe finanziert. Fünf von den sechs Briefen unseres heiligen Ordensgründers sind an Wohltäter gerichtet.

 

            Je nach der Tradition in den einzelnen Provinzen, wurden unsere Wohltäter regelmäßig von den Sammelbrüdern besucht. Obwohl es auch heute noch einige Brüder gibt, die sich dieser Tätigkeit widmen, kam es hier zu einer tiefgreifenden Veränderung, die bewirkt hat, daß wir heute vielfach zwar mit moderneren Systemen arbeiten, die aber oft sehr unpersönlich anmuten.

 

            Trotzdem bestehen noch gewisse persönliche Beziehungen zu unseren Gönnern, die sowohl für sie als auch für uns ein großer Segen sind.

 

            Wir pflegen den Kontakt zu ihnen durch Briefe, Spendenaufrufe und die Informationsschriften, die wir zu diesem Zweck publizieren. Ich bin der Meinung, daß diese Tätigkeit unbedingt fortgeführt werden muß. Unser Orden genießt heute die Unterstützung unzähliger anonymer Gönner. Gerade deswegen erachte ich es als besonders wichtig, daß Kontakte mit ihnen hergestellt und gepflegt werden, die sie spüren lassen, daß sie zu unserer Familie gehören. Dadurch bewirken wir zum einen, daß sie das Viele oder Wenige, das sie haben, mit den Hilfsbedürftigen teilen und so zu Werkzeugen der Solidarität werden. Zum anderen ermöglicht ihre Hilfe es uns, Projekte für notleidende Menschen durchzuführen, die wir aus eigenen Kräften nicht zu finanzieren imstande wären.

 

            Ich begrüße und unterstütze alle Initiativen, die der Orden in diesem Bereich durchführt. Bemühen wir uns, bei unseren Freunden und Gönnern die Verehrung unserer Ordensheiligen und Ordensseligen, insbesondere unseres heiligen Ordensgründers, zu fördern. Informieren wir sie ausführlich über die Tätigkeit des Ordens und vermeiden wir, im Umgang mit ihnen einen kommerziellen Ton anzuschlagen. Lassen wir sie spüren, daß sie zu unserer Familie gehören und eine wichtige Säule unseres Apostolates sind. Neben dem Bettler von Granada, haben wir in P. Francisco Camacho, dem Sammelapostel aus Lima, ein hervorragendes Vorbild für den Umgang mit unseren Gönnern.

 

8.3.            Gemeinsam dem Leben dienen - Die Barmherzigen Brüder und ihre ehrenamtlichen Helfer

 

            Die vereinsmäßig organisierte, ehrenamtliche Mitarbeit ist ein Phänomen unserer Zeit, doch Menschen, die sich auf freiwilliger Basis für andere eingesetzt haben, hat es immer gegeben. So war es auch in unserem Orden. Anläßlich des 500. Geburtstages unseres heiligen Ordensgründers habe ich ein Referat zum Thema ehrenamtliche Mitarbeiter gehalten, in dem ich Johannes von Gott als “Pionier der ehrenamtlichen Mitarbeit” bezeichnet habe. Tatsächlich gelang es ihm, zahlreiche Personen dafür zu gewinnen, sich nicht aus erwerbsmäßigen oder wirtschaftlichen Gründen, sondern auf unentgeltlicher und freiwilliger Basis solidarisch für andere einzusetzen. Ich glaube sagen zu können, daß der Orden hier auch heute noch Pionierarbeit leistet, ja eine Schule in Sachen ehrenamtliche Mitarbeit ist und durch seine ehrenamtlichen Helfer eine unschätzbare Bereicherung erfährt.

 

            Es ist unmöglich, hier alle Gruppen und Vereine aufzuzählen, die es in unseren Provinzen und Häusern gibt. Wohl soll aber der Gewinn unterstrichen werden, den ihre Präsenz für die neue Hospitalität, die Hospitalität des heiligen Johannes von Gott bringt. Die Personen, die bei uns auf freiwilliger Basis tätig werden, kommen zu uns, weil sie sich vom Geist unseres Ordensgründers angezogen fühlen und einen Teil ihrer Zeit unentgeltlich anderen widmen wollen. Dadurch lassen sie dem Patienten, Alten, Behinderten usw. menschliche Solidarität erfahren und ergänzen so die Tätigkeit der Fachpersonen. An ihnen wird das Ideal, für das wir arbeiten, in einer ganz besonderen Weise sichtbar.

 

            Ich glaube, daß wir die ehrenamtliche Mitarbeit als Ergänzung in unseren Häusern immer mehr fördern sollten. Wir Brüder sollten die ersten sein, die ihren Beitrag zu pflegen und zu schätzen wissen. Denn unser Bestreben muß es sein, daß alle, die sich dazu angetrieben fühlen, aus ihrer Identität heraus den mannigfaltigen Reichtum des Geistes unseres Ordensgründers zur Entfaltung bringen können.

 

8.4.      In die Spiritualität des heiligen Johannes von Gott hineinwachsen

 

            In einem jeden der drei vorausgehenden Abschnitte, die jeweils unseren Mitarbeitern, Gönnern und ehrenamtlichen Helfern gewidmet waren, habe ich vom Geist des heiligen Johannes von Gott gesprochen. Es ist von eminenter Wichtigkeit, daß wir diesen Geist leben und diesen Menschen vermitteln.

 

            In unserem Orden haben sich in verschiedenen Teilen der Welt Personen zu Gruppen zusammengeschlossen mit dem Ziel, ihr Christsein nach dem Vorbild unserer Ordensheiligen und -seligen zu leben. Die Leitfiguren dieser Gruppen sind bisher vor allem der heilige Johannes von Gott und der heilige Richard Pampuri. Zu ihnen gehören Personen aus den verschiedensten Bereichen, vor allem aber Mitarbeiter. Ich glaube, daß diese Gruppen ein Segen sind und von uns Brüdern nach Kräften gefördert werden sollten.

 

            Beim letzten Generalkapitel wurde die Möglichkeit in Betracht gezogen, einen ordensweiten, konfessionellen Verein zu gründen. Diese Möglichkeit war bereits seit langem im Gespräch und auch die rechtlichen Voraussetzungen für die Gründung waren bereits geklärt worden. Nach eingehender Überlegung kam man überein, daß die Zeit für einen solchen Schritt noch nicht reif war. Trotzdem sollten nach meinem Dafürhalten in den Provinzen und Häusern solche Gebetskreise und Initiativgruppen in Hinordnung auf unser Charisma und unseren Ordensgründer gefördert werden. Dadurch können wir eine breitere Beteiligung an den spirituellen Gütern des Ordens erreichen.

 

8.5.      Unsere verschiedenen Identitäten sind eine Bereicherung für  unsere Arbeit

 

            Wir sind verschieden. Unsere Mitarbeiter und wir unterschieden uns nicht nur durch die verschiedene Stellung, die wir in der Kirche einnehmen, sondern auch durch die, die wir in der Gesellschaft einnehmen. Diese Verschiedenheit soll für uns jedoch eine Bereicherung sein. Die Mitarbeitervertreter, die am letzten Generalkapitel teilgenommen haben, gaben in ihrer Erklärung der Überzeugung Ausdruck, daß “die Integration der Mitarbeiter in den Sendungsauftrag des Ordens heute wichtig, notwendig und unentbehrlich ist” (Einleitung).  Unsere Ausstrahlungskraft kommt uns von der Berufung, mit der uns der Herr eingeladen hat, uns wie der heilige Johannes von Gott dem Ideal der Hospitalität zu weihen. Die Hospitalität kann jedoch in vielfältigen Formen gelebt werden, die alle ihren Wert haben.

 

            In einer Ansprache, die ich anläßlich des 500. Geburtstages unseres heiligen Ordensgründers zu dem Thema “Barmherzigkeit und Gerechtigkeit im Hospitalorden des heiligen Johannes von Gott heute” gehalten habe, betonte ich im Schlußteil:

 

            “Wir haben im Orden eine Bewegung in Gang gesetzt, die sich mit Respekt vor der Identität eines jeden Einzelnen an alle Mitarbeiter wendet und bei allen den Geist des heiligen Johannes von Gott bei der wechselseitigen Zusammenarbeit zum Wohl der uns anvertrauten Menschen fördern will.

 

            Es ist nicht eine Bewegung, die nur den Freunden der Brüder offensteht; es ist nicht eine Bewegung, um kritische Stimmen unter den Mitarbeitern zum Verstummen zu bringen; es ist nicht eine Bewegung, aus der diejenigen, die sich ihr anschließen, materielle Vorteile ziehen können; es ist nicht eine Bewegung, die Frömmelei oder Pietismus propagieren will.

 

            Es ist eine seriöse Bewegung, die die persönliche und spirituelle Entwicklung aller Personen, die in der Ordensfamilie des heiligen Johannes von Gott tätig sind, fördern will, weil wir alle, wenn auch in verschiedener Stellung, zu ihr gehören.

 

            Es ist eine Bewegung, die sich nicht in Äußerlichkeiten erschöpft, sondern der Boden für das Weiterwachsen der im Orden gewachsenen Kultur der Hospitalität sein will. Mein Wunsch ist, daß diese Bewegung zum Wohl aller Beteiligten - Betreuter, Mitarbeiter und Brüder - sich weiterentwickelt.”

 

            Bitte versteht mich nicht falsch. Es ist nicht so, daß heute die Mitarbeiter wichtiger als die Brüder sind. Eine solche Argumentation hat keinen Sinn.

 

            Wenn wir den Anforderungen unseres Auftrages entsprechen, dem heiligen Johannes von Gott treu bleiben und den Herausforderungen unserer Zeit begegnen wollen, müssen wir den Sinn unseres Miteinanders mit den Mitarbeitern immer tiefer begreifen lernen; begreifen lernen, was es heißt, gemeinsam den Ordensauftrag zu erfüllen. Dabei muß es unser Bemühen sein, unseren Mitarbeitern klar verständlich zu machen, was wir uns von ihnen erwarten. Dazu müssen wir ihnen helfen, sich fester mit unseren Vorstellungen zu identifizieren, den Geist des Charismas in ihren Personen, in den Berufskategorien, die in unseren Häusern tätig sind, und in den Gremien, die wir gebildet haben, fördern, damit der Geist des heiligen Johannes von Gott lebendig bleibt.

 

            Ich bin mir bewußt, daß weder dieses noch andere Projekte des Ordens den Anspruch auf absolute Gültigkeit haben. Wir können uns täuschen; vieles kann verbessert werden; doch dazu ist notwendig, daß wir nie aufhören, gemeinsam zu denken und zu suchen. Ich möchte, daß wir, unbeschadet des Rechtes jedes Einzelnen auf Kritik, immer fester zusammenwachsen und die Bewegung mit den Mitarbeitern zu einer echten Gemeinschaft wird.

 

9.         Freuen wir uns, Barmherzige Brüder zu sein

 

            Ich habe Euch diesen Brief von Herzen gern geschrieben. Es sind nun zwei Jahre seit dem Generalkapitel vergangen, bei dem mir die Aufgabe anvertraut wurde, der Nachfolger des heiligen Johannes von Gott bei der Leitung seines Werkes und der Animation des Ordens zu sein. Ich habe diesen Dienst mit großem Vertrauen angenommen, bin weiter zuversichtlich und spüre, daß Gott und unser heiliger Ordensgründer mich bei meiner Arbeit unterstützen.

 

            Ich hatte viele Gelegenheiten zur Begegnung mit Euch. Einige Häuser konnte ich bisher noch nicht besuchen und auch einigen Brüder konnte ich noch nicht persönlich die Hand drücken. Die Sprache erschwert oft trotz allen guten Willens die Verständigung. Ich muß mich gleichzeitig um viele Dinge kümmern. Ein mit Liebe geschriebener und erwiderter Brief ist da oft der beste Weg sich auszutauschen und auszusprechen.

 

            Während ich diese Zeilen schrieb, kamen mir die vielen frohen Stunden in Erinnerung, die ich gemeinsam mit Euch erleben durfte. Ich hoffe, daß es Euch genauso ergeht. Ich wollte mich mit einer realistischen Botschaft an Euch wenden. Ich habe kein Interesse daran, mich seitenlang über irreale Dinge zu verbreiten. Mich interessiert Euer Leben, das Leben des Ordens, wie wir auf den Ruf des Herrn antworten und wie wir besser antworten können.

 

            Ich habe diese Überlegungen im Bewußtsein um meine Verantwortung angestellt, möchte aber, daß Ihr alle mitdenkt. Wahrscheinlich seid Ihr nicht mit allem einverstanden, was ich geschrieben habe. Es ist schwer, in einem solchen Schreiben den richtigen Ton für alle zu treffen. Andererseits sind Meinungsverschiedenheiten auch eine große Bereicherung. Ich für meinen Teil kann nur wiederholen, daß das, was ich Euch geschrieben habe, das Ergebnis eingehender Überlegungen und Konfrontationen mit der Wirklichkeit ist.

 

            Mein Wunsch ist, daß Ihr Euch freut und glücklich seid, Barmherzige Brüder zu sein. Mich schmerzt es jedesmal, wenn ich bemerke, daß sich Brüder dem Orden entfremdet haben oder sich in ihm nicht wohl fühlen, weil sie kein Verständnis für sich selbst oder die anderen haben oder denken, daß sie nicht verstanden werden.

 

            Ich habe zu Beginn gesagt, daß wir zuerst Barmherzigkeit an uns selbst üben lernen müssen. Diese Empfehlung können wir im dritten Brief von Johannes von Gott an die Herzogin von Sesa nachlesen. Unser bester Freund, wird einem in Selbsterfahrungsgruppen immer wieder eingehämmert, sind wir selbst. Das hat nichts mit Egoismus zu tun, sondern ist für die Ausbildung einer ausgeglichenen, gelösten, in sich selbst ruhenden Persönlichkeit notwendig, die in der Antwort auf den Ruf des Herrn ihr Lebensglück sucht. Sicher gibt es Ungerechtigkeiten, doch die Hauptverantwortlichen dafür, daß unser Leben froh, glücklich und erfüllt ist, sind wir selbst. Der Herr und der heilige Johannes von Gott wollen, daß wir glücklich sind. Dessen bin ich mir ganz sicher.

 

9.1.      Die Zukunft ist eine Chance, glücklich zu sein

 

            Blicken wir mit Hoffnung in die Zukunft. Mit der Hoffnung der menschlichen Person und mit der Hoffnung des Glaubens. Befreien wir uns vom Pessimismus. Wir sind unaufhaltsam in die Zukunft unterwegs. Ich habe gelegentlich gesagt, daß die Zukunft uns die Möglichkeit bietet, das zu tun, was wir bisher nicht getan haben, und das, was wir bereits tun, noch besser zu machen.

 

            Ich weigere mich zu glauben, daß wir keinen Grund zur Hoffnung haben. Die neuen Berufe sind ein Grund zur Hoffnung. Manche werden dagegenhalten, daß es wenige sind. Das stimmt. Sind aber nicht auch diese wenigen ein Grund zur Hoffnung? Das vielfältige Apostolat, das wir durchführen, ist ein Grund zur Hoffnung. Das vorbildhafte Leben, das viele von Euch führen, ist ein Grund zur Hoffnung. Die Achtung, die zahlreiche Menschen vor uns haben, ist ein Grund zur Hoffnung.

 

            Sollten diese menschlichen Gründe nicht zuversichtlich stimmen, finden wir Halt in der theologischen Tugend der Hoffnung. Andernfalls wäre all unser Glauben vergeblich. Gott hat uns dazu berufen, seine Barmherzigkeit den Armen und Hilfsbedürftigen zu vermitteln.

 

            Das können wir nur, wenn wir Hoffnung haben. Johannes von Gott, Johannes Grande, Richard Pampuri, Benedikt Menni, die Ordensmärtyrer waren Zeugen der Hoffnung, der Hoffnung der menschlichen Person und der Hoffnung des Glaubens.

 

            Für jeden Menschen ist grundlegend, daß er seinem Leben einen Sinn gibt. Im Ostergeheimnis Jesu Christi finden wir die Erklärung für unergründliche Wahrheiten (Gaudium et Spes 22). In und aus Jesus Christus erhält das Ostergeheimnis unserer Existenz Sinn.

 

            Es ist sehr wichtig, daß man glücklich ist und das Leben im Zeichen des Glaubens deutet, nicht um vor der Wirklichkeit zu flüchten oder sich falschen Illusionen hinzugeben, sondern im Gegenteil, um zu sich selbst zu finden und in Jesus Christus glücklich zu sein.

 

9.2.      Das Jahr 2000: Jubeljahr der Kirche

 

            Die Kirche bereitet sich derzeit sehr intensiv auf die Feier des Jubeljahres 2000 vor, in dem sie mit Nachdruck des historischen Kommens Jesu Christi gedenken will, der uns die Fülle des Heils gebracht hat, das uns und alle Gläubigen und besonders die Kranken und Hilfsbedürftigen mit inniger Freude erfüllt.

 

            In dem Apostolischen Schreiben “Tertio millennio adveniente” hat der Heilige Vater das Jahr 1997 zum Jahr Jesu Christi, das Jahr 1998 zum Jahr des Heiligen Geistes und das Jahr 1999 zum Jahr des Vaters erklärt.

 

            Die Generalleitung hat ein Sechsjahresprogramm vorgelegt, in dem für jedes Jahr eine Reihe von Tätigkeiten vorgesehen sind. 1997 jährt sich zum hundertsten Mal der Geburtstag des heiligen Richard Pampuri. Bitte berücksichtigt diese Feier bei Euren Plänen. Die Generalleitung hat beschlossen, ein außerordentliches Generalkapitel zur Approbation der neuen Generalstatuten einzuberufen, das in der Nähe seines Heimatortes abgehalten werden soll.

 

            Vereinigen wir uns in den kommenden drei Jahren ganz besonders innig mit der Kirche und bemühen wir uns, in dieser Zeit die trinitarische Dimension unseres Lebens zu vertiefen, indem wir gemäß dem Wunsch des Heiligen Vaters und der ganzen Kirche in den betreffenden Jahren jeweils den christologischen, pneumatischen und theologischen Sinn unserer Existenz  vertiefen.

 

            Das wird uns die Kraft geben, in das neue Jahrtausend mit dem wahren Geist der Neuen Hospitalität auf den Spuren des heiligen Johannes von Gott zu treten.

 

9.3.            Bemühen wir uns, daß Johannes von Gott weiterlebt

 

            Johannes von Gott ist nicht unser Eigentum. Johannes von Gott gehört der ganzen Kirche und der ganzen Menschheit. Ebensowenig sind wir die Alleinverantwortlichen dafür, daß er in der Geschichte weiterlebt. Doch mit der Hilfe Gottes ist es unsere Aufgabe dafür zu sorgen, daß er und sein Orden in der Zeit weiterleben.

 

            Die Kernfrage, um den alle meine Überlegungen in diesem Schreiben gekreist sind, ist denn auch: Wie können wir heute das Zeichen Johannes von Gott zum Wohl der Kranken und Hilfsbedürftigen lebendig erhalten? Wir dürfen den Reichtum unseres Gründers und der Anfänge unseres Werkes auf keinen Fall verkümmern lassen.

 

            Heute ist der Orden in 46 Ländern tätig. Die Brüder kommen aus 54 verschiedenen Ländern. Diese Vielfalt ist ein Reichtum, den es mit Treue zu unserer Berufung zu bewahren gilt. Mit einer kreativen Treue, die sich vor neuen Aufgaben nicht fürchtet, sich den Herausforderungen von heute mutig stellt und ihnen zielbewußt begegnet.

 

            Ich habe dieses Schreiben mit dem Ausspruch des heiligen Apostels Paulus überschrieben:”Laßt Euch vom Geist leiten!”  Ich habe diese Empfehlung dann in dem Schreiben nicht mehr erwähnt. Doch sie liegt allen Überlegungen, die ich angestellt habe, zugrunde. Denn mein größter Wunsch ist, daß wir keine Angst haben und uns vom Geist in die Zukunft führen lassen.

 

            Maria, der heilige Johannes von Gott und alle anderen Heiligen und Seligen unseres Ordens mögen uns dabei begleiten und beschützen.

 

 

 

            Rom, den 24. Oktober 1996

            Fest des heiligen Erzengels Raphael

 

 

 

 

 

Fr. Pascual Piles OH

Generalprior

 

 

 

 

 

            Fr. Valentín A. Riesco OH

            Generalsekretär

 

           

 

             

 

 

 

 

 

 

 



[1]                CASTRO, Francisco: Geschichte des Lebens und der heiligen Werke des Johannes von Gott, Granada 1685, IX. Kapitel.

[2]              Vgl. O’DONNELL, Brian: Diener und Prophet, Granada 1989.

[3]              Vgl. SANCHEZ, José: Kenosis y Diaconia en el itinerario espiritual de San Juan de Dios, Madrid 1995.

[4]              PILES, P., Johannes von Gott: Einladung zur Neuen Hospitalität, Rom, 1996, 3.

[5]              Vgl. 63. Generalkapitel, Neuevangelisierung und Hospitalität an der Schwelle zum dritten Jahrtausend, Bogotà 1994, 5.4.2.

[6]              Vgl. ebd. 5.4.3.

[7]               Vgl. Religiosenkongregation, Ordensleute und menschliche Förderung, Rom 1980, S. 24.

[8]              Vgl. 63. Generalkapitel, Leitlinien, 6.

[9]                CASTRO, Francisco: Geschichte des Lebens und der heiligen Werke des Johannes von Gott, Granada 1685, IX. Kapitel.

 
 

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